Effiziente Priorisierung von Vorhaben

In den ersten beiden Artikeln dieser Mini-Serie habe ich dargelegt, wann OKRs keine passende Methodik für die Zielplanung sind und wie eine rollierende Vorhabenplanung flexibler die Planung und Umsetzung von großen Vorhaben erlaubt. Was noch fehlte, war eine Methodik, wie man konkret priorisieren kann. Wie wählt man aus, welches Vorhaben man als nächstes startet (Schritt 3 in der Vorhabenplanung)?

Warum ich von einigen Theorien dazu nichts halte, erklärt dieser Artikel. Ich stelle einen effizienteren Priorisierungsansatz vor und außerdem ein kleines Tool zur Verfügung, das bei der Anwendung hilft. 

Der theoretisch beste Weg zu priorisieren

Die Frage, die eine Priorisierung beantworten muss, ist: “Worin investiere ich, wenn meine Ressourcen knapp sind?”. Ressourcen sind dabei typischerweise Zeit, Geld oder Mitarbeiter mit den nötigen Kenntnissen. In der digitalen Produktentwicklung ist meist die Verfügbarkeit von Mitarbeitern der Engpass. Wir müssen entscheiden an welchen der vielfältigen Ideen und Themen sie arbeiten sollen. 

Die Verfügbarkeit von Mitarbeitern ist in der digitalen Produktentwicklung meist der Engpass und es gibt mehr Produktideen als Umsetzungskapazität.

In der Theorie ist diese Entscheidung einfach: Sortiere alle Vorhaben nach ihrem Return on Investment (ROI), also dem Nutzen, den sie in Relation zu ihren Kosten erbringen werden. Arbeite dann die Vorhaben entsprechend dieser Liste ab, beginnend mit dem höchsten ROI. 

Praktische Probleme

In der Praxis stehen dem mehrere Probleme entgegen:

  1. Wie bemesse ich Nutzen? Wenn ich mehrere Vorhaben vergleichen möchte, muss ich dafür den gleichen KPI verwenden. “Der eine KPI“ ist jedoch meist nicht auszumachen. Dies liegt daran, dass meist mehrere KPIs gemeinsam relevant sind. Wenn ich mich zum Beispiel auf den Customer Lifetime Value (CLV) konzentriere, ist das ein guter Ansatz, aber nur, wenn ich auch die Anzahl meiner Kunden im Auge behalte. Gleiches gilt für Umsatz (Was ist mit meinen Kosten?) und Gewinn (Wie optimiere ich diesen langfristig und nicht kurzfristig?). Gerade die besser geeigneten KPIs, wie der eingangs erwähnte CLV, sind noch dazu schlecht prognostizierbar und nur über längere Zeiträume überhaupt messbar.
  2. Andere Zeiten erfordern anderen Nutzen. Schon die Annahme, dass es einen “besten Nutzen” gäbe, ist manchmal falsch. Nehmen wir das Beispiel der Corona-Pandemie: Wenn in solch einer Situation das Geschäft leidet, dann nützt es nichts den Fall von Umsätzen oder CLV abzubremsen, wenn die Unternehmung während dessen insolvent wird. Es kann dann besser sein, z. B. in die Reduktion der eigenen Hosting-Kosten zu investieren. Es könnte in solch einer Situation aber auch sinnvoll sein in Neukundengewinnung zu investieren um die eigene Marktposition zu verbessern – solange die Solvenz gesichert ist. Und wenn man Ladengeschäften, die andernfalls während eines Lockdowns keinerlei Umsätze machen würden, kostenlos auf die eigene Online-Plattform verhelfen kann, so ist das unabhängig von betriebswirtschaftlichen Überlegungen vielleicht der ethisch und gesellschaftlich größere Nutzen. 
  3. Wie wäge ich ab zwischen Investition in neue Business-Features oder in technische Architektur? Insbesondere der Nutzen letzterer ist typischerweise schwer zu beziffern. Wenn ich aber die Investition in Architektur und Technologie zu lange zurück stelle, können die Kosten langfristig enorm sein. Dennoch bleibt ein Vergleich mit dem potenziellen Nutzen eines Business-Features sehr schwer.

Präzisionswahn

Traditionelle Firmen ver(sch)wenden oft viel Aufwand auf das Erstellen von “Business Cases”. Damit wägen sie Vorhaben anhand bestimmter KPIs gegeneinander ab. Abgesehen davon, dass hier oft eine erwünschte Reihenfolge “herbei errechnet” wird, ist der Aufwand für die dabei erzeugte Scheinpräzision aus den genannten Gründen pure Verschwendung. 

Traditionelle Firmen ver(sch)wenden oft viel Aufwand allein auf das Erstellen von “Business Cases”. Der Aufwand für die dabei erzeugte Scheinpräzision ist pure Verschwendung.

Ein praktischer (und agiler) Weg zur Priorisierung

Wenn es also nicht so einfach ist – wie kann ich dennoch effizient priorisieren und dabei agil bleiben?

Der folgende Prozess funktioniert meiner Erfahrung nach gut und ist dabei pragmatisch. Anstatt eines exakten KPI berücksichtigt er vier “Dimensionen”, die jedoch eher grob bestimmt werden. In aller Regel reicht solch eine Einordnung völlig aus und ist wesentlich einfacher. 

Ein Hinweis vorab: Ich betrachte nur den Fall der Priorisierung des nächsten Vorhabens zur Umsetzung (Implementierung). Digitale Produktentwicklung besteht neben Softwareentwicklung zu einem wesentlichen Teil aus Produktmanagement-Arbeit. Diese frühen Phasen der Produktentwicklung thematisiere ich im Artikel über die rollierende Vorhabenplanung.

Dimensionen zur Bewertung eines Vorhabens

  1. Nutzen: Natürlich spielt der erwartete Nutzen eine zentrale Rolle, auch wenn er nicht die einzige Dimension darstellt. Anstatt viel Aufwand darauf zu verwenden einen exakten Nutzen zu “errechnen”, kann er in T-Shirt-Größen abgeschätzt werden, d. h. auf einer Skala mit den Werten S, M und L. Sollten diese drei Stufen wider Erwarten nicht ausreichen, kann man sie mittels XS, XL… erweitern. Aber wie schätze ich die T-Shirt-Größe ein? Drei Szenarien kenne ich aus der Praxis:
    • Grobe Abschätzung des “Impact” (leider kenne ich kein schönes deutsches Wort dafür) nach bestem Wissen und Gewissen: Das sollte der Normalfall sein und kann z. B. Umsatzpotenziale und Kosteneinsparpotenziale gleichermaßen berücksichtigen. Nun klingt es vielleicht sehr beliebig und unpräzise den Nutzen verschiedener – nicht leicht vergleichbarer – Vorhaben einfach so grob zu “schätzen”. Meiner Erfahrung nach ist es jedoch in den allermeisten Fällen überraschend einfach intuitiv den Nutzen verschiedener Vorhaben relativ zueinander zu klassifizieren. Wenn z. B. zehn Vorhaben auf der Liste stehen, ist oft recht klar, welche voraussichtlich einen großen und welche einen eher geringen Nutzen haben. Die Wahrheit ist, dass jegliche “Berechnung” auch nur Spekulation ist, da wir die Zukunft nicht vorhersagen können. 
    • Abschätzung nach Strategiebeitrag: Zalando hat sich entschlossen einen nachhaltigeren Umgang mit Mode zu ermöglichen und “Pre-Owned” einzuführen, d. h. die Möglichkeit gebrauchte und gut erhaltene Mode weiterzuverkaufen. Dabei war der Nutzen in Bezug auf kurzfristige Geschäftszahlen sicherlich schwer abschätzbar. Jedoch war klar, dass dieses Vorhaben einen langfristig nachhaltigeren Umgang mit Mode ermöglichen würde. Da dies ein wichtiger Bestandteil von Zalandos Strategie ist, war der Nutzen als hoch einzustufen. 
    • Vorgabe Top-down: Manche Dinge lassen sich nicht voraussehen und damit auch nicht in einer Strategie abbilden. Das oben erwähnte Beispiel zu Beginn der Corona-Pandemie – Ladengeschäften den Verkauf über die Zalando-Plattform zu ermöglichen – hatte in erster Linie einen gesellschaftlichen und ethischen Nutzen. Entsprechend bedurfte es einer Entscheidung des Top-Managements zu diesem Zeitpunkt in dieses Vorhaben zu investieren. Dieses Szenario sollte am seltensten auftreten. 
  2. Klarheit: Ein weiteres grundlegendes Kriterium ist, wie “umsetzungsbereit” ein Vorhaben ist, oder ob grundlegende Fragen ungeklärt sind. Die knappen Umsetzungskapazitäten sollten nicht ihre Zeit damit verschwenden auf diese Klärungen zu warten. Die Klarheit kann man mit “hoch”, “mittel” und “niedrig” abschätzen. 
  3. Dringlichkeit: Auch wenn der Nutzen und die Klarheit hoch sein sollten, so kann die Dringlichkeit einen Unterschied machen: Mit Einführung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) mussten Unternehmen zum Stichtag datenschutzkonform sein. Die Option eine Ware als Geschenk verpackt zu kaufen, sollte idealerweise vor dem Weihnachtsgeschäft fertig werden und nicht danach. Die Anbindung der Ladengeschäfte an die Zalando-Plattform musste zu Beginn der Corona-Pandemie so schnell wie möglich passieren, um diesen Umsätze zu ermöglichen. Cost of Delay ist eine Möglichkeit die Dringlichkeit zu bewerten. Ein solcher Wert oder ein feststehendes Startdatum können verwendet werden um die Dringlichkeit in die drei Stufen “hoch”, “mittel” und “niedrig” einzuteilen. 
  4. Aufwand/Komplexität: Was nicht vergessen werden sollte, ist die Komplexität, bzw. der Aufwand für ein Vorhaben. Wenn ich zwei Vorhaben mit ähnlichem Nutzen und Dringlichkeit habe, will ich dasjenige mit dem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis priorisieren. Manchmal ist es auch so, dass absehbar in der nahen Zukunft ein sehr hoch priorisiertes und dringliches Vorhaben starten muss (aber zum Beispiel mangels Klarheit jetzt noch nicht kann). In dem Fall kann es sinnvoll sein bis dahin nur ein weniger aufwändiges, d. h. kürzeres Vorhaben anzugehen. Dann hat man für das dringliche wieder Kapazität, sobald es bereit ist.
    Zur Abschätzung kann man auch hier wieder T-Shirt-Größen S, M und L (und evtl. XS & XL) verwenden.

Die eigentliche Priorisierung

Es empfiehlt sich die Vorhaben mit ihren Dimensionen und je nach Bedarf weiteren Informationen in einer Liste zu sammeln. In einer simplen Tabelle kann das so aussehen:

Tabellarische Übersicht von Vorhaben mit den Daten:
1. Thema
2. Beschreibung
3. Klarheit
4. Impact
5. Drignlichkeit
6. Aufwand/Komplexität
7. Status
8. Verantwortlicher
Beispielhafte Übersicht eines Vorhaben-Backlogs – fertig zur Priorisierung

Sobald man freie Kapazität hat oder aus anderen Gründen priorisieren möchte, müssen zunächst die Werte der Dimensionen der Vorhaben aktualisiert werden. Wenn alle notwendigen Personen in einem Meeting zusammen sind, ist das in einer Viertelstunde erledigt. Danach kann die eigentliche Priorisierung beginnen: 

  1. Zunächst empfiehlt es sich nur die Vorhaben zu berücksichtigen, bei denen die Klarheit hoch ist. Die anderen sollte man ausfiltern, da man sie ohnehin noch nicht umsetzen könnte. 
  2. Im nächsten Schritt lässt sich die Menge der verbliebenen Vorhaben reduzieren, indem auf die mit dem höchsten Nutzen gefiltert wird.
  3. Sind immer noch mehrere Vorhaben übrig, kann die Auswahl auf diejenigen mit der höchsten Dringlichkeit eingeschränkt werden. 
  4. Als weiteres Kriterium kann nun das Vorhaben mit der geringsten Komplexität/Aufwand ausgewählt werden.

Zwei Anmerkungen noch dazu:

Zum einen ist das hier beschriebene Vorgehen natürlich wie immer nicht dogmatisch zu sehen. Manchmal muss die Dringlichkeit vor dem Nutzen betrachtet werden. Beispielsweise dann, wenn ein Vorhaben andernfalls nicht termingerecht umsetzbar ist, aber aus Compliance-Gründen umgesetzt werden muss. Diese Methodik ist nur ein Werkzeug, gesunder Pragmatismus ist hilfreich. 

Zum anderen kann es sein, dass schon im Verlauf des Prozesses nur noch ein Vorhaben übrig bleibt oder dass am Ende immer noch mehrere übrig sind. Im ersten Fall: Herzlichen Glückwunsch und los geht’s! Im zweiten Fall sollte dennoch eine intuitive Abwägung möglich sein, welches Vorhaben nun priorisiert wird (oder es ist eine sehr politische Frage). 

Bonus 1: Priorisierungstool

Zur einfachen Anwendung stelle ich ein kleines Tool in Form eines Spreadsheet zur Verfügung. Über dieses lassen sich Vorhaben mit den beschriebenen Dimensionen erfassen und nach der vorgestellten Methodik priorisieren. Das Spreadsheet ist eine Google-Tabelle und kann hier geöffnet werden. Um es zu verwenden, mache bitte eine eigene Kopie davon, die du dann auch beliebig anpassen und erweitern kannst. 

Wenn du das Tool verwendest, würde ich mich über eine Rückmeldung hier in den Kommentaren sehr freuen!

Bonus 2: Alternative Sichtweise

Ich habe hier meine Sichtweise auf Priorisierung geteilt. Da es immer hilfreich ist auch andere Sichtweisen zu kennen, empfehle ich den Beitrag meines sehr geschätzten ehemaligen Kollegen Stefan Willuda: “The best way to prioritize a backlog is picking”. Viel Spaß beim Lesen!

Stefan schlägt einen noch wesentlich radikaleren Ansatz vor: Priorisierung durch Auswählen des kleinsten Arbeitspaketes. Ich stimme Stefan bei den folgenden Punkten völlig zu:

  • Priorisiere nur, wenn du auch ein neues Vorhaben starten kannst! Alles andere ist Verschwendung.
  • Aufwand in die “Berechnung” von Business Cases zu investieren ist ebenfalls Verschwendung.
  • Große Vorhaben in kleinere Happen herunterzubrechen hilft das Risiko klein zu halten. 

Was ich an seinem Vorschlag kritisch sehe: Der Ansatz optimiert den Output, also die schiere Menge an geleisteter Arbeit. Wenn aber die Umsetzungskapazität der Engpassfaktor ist, ist es umso wichtiger die Themen mit dem größten Nutzen zu wählen, anstatt fast willkürlich das kleinste Vorhaben zu beginnen. Dadurch optimiert man den Outcome. Wie dargestellt, lässt sich auch mit geringem Aufwand für eine Priorisierung ein deutlich höherer Nutzen erzielen.

Ausblick 

In diesem Artikel habe ich ein Thema kurz angerissen, das ich sehr wichtig finde: “Wie wäge ich ab zwischen Investition in neue Business-Features oder in technische Architektur?” 

Wenn du Interesse an einem eigenen Artikel dazu hast, dann lass es mich in den Kommentaren wissen.

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4 Gedanken zu „Effiziente Priorisierung von Vorhaben

  1. Guter, pragmatischer und interessanter Artikel über das Vorgehen bei der Vorhabenplanung lieber Jan. Vielen Dank auch für das Teilen des Planungsspreadsheats. Zu den 4 Dimensionen würde ich jedoch noch eine 5. Dimension hinzufügen, die ich ebenfalls als wichtig ansehe. Für mich sind die Vorhaben Abhängigkeiten ein wichtiger Teil der Priorisierung der Vorhaben Reihenfolge. So sind in der Praxis häufig Vorhaben auch voneinander abhängig, sodass sich darüber eine Priorisierung ergibt die unabhängig von dem Nutzen, der Dringlichkeit oder aber der Komplexität ist. Klarheit ist dagegen die Voraussetzung für jedes Vorhaben.
    Liebe Grüße
    Holger

    1. Hallo Holger,

      vielen Dank für das Feedback! Deine Anmerkung teile ich völlig. Wenn harte Abhängigkeiten bestehen, übertrumpfen diese die anderen Dimensionen. Das Sheet hat auch schon eine Spalte um Abhängigkeiten zu erfassen, allerdings nur als zusätzliche Freitextinformation. Bei Bedarf kann man das aber natürlich gerne anpassen.

      Liebe Grüße!
      Jan

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