Versuch einer modernen Reorganisation

Reorganisationen sind eine meist ungeliebte Veränderung im Unternehmen. Das haben sie mit fast allen Veränderungen gemein, doch sind hier die Mitarbeiter auch noch sehr direkt und persönlich betroffen.

Motivation: Mehr Kundenfokus

Bei idealo standen wir Mitte 2016 vor der Erkenntnis, dass unsere Abteilung für die Produktentwicklung “Product & Technology” organisatorisch nicht optimal aufgestellt war. Ungefähr 250 Mitarbeiter, vor allem Entwickler und Produktmanager, arbeiteten dort in verschiedenen Bereichen.

Bei idealo entwickeln wir derzeit unser Geschäftsmodell weiter vom reinen Preisvergleich zum vollumfänglichen Shopping-Portal, auf dem ich auch direkt kaufen kann, ohne noch zum einzelnen Shop zu müssen. Diese grundlegende Veränderung zog viele Projekte nach sich, an denen mehrere Produktentwicklungsbereiche gemeinsam mitwirken mussten und darin waren wir nicht gut. Die Priorisierung im Vorfeld fiel uns schwer, aber auch die Konzeption und die Koordination in der Ausführung. Der Abstimmungsaufwand machte uns langsam.

Weiterhin hatten wir bei den technischen Mitarbeitern eine Struktur, bei der Führungskräfte bis zu 20 Mitarbeiter direkt führten, im Extremfall sogar knapp 30. Bei solch einer Führungsspanne ist eine gute Mitarbeiterentwicklung sehr schwierig.

Außerdem hatten wir die bisherigen Bereiche entlang der Wertschöpfungskette geschnitten. Das führte dazu, dass es keinen starken Kundenfokus gab, da jeder Bereich immer nur einen Teil der letztlichen Lösung beisteuerte. Für den einzelnen Mitarbeiter war die Sinnhaftigkeit seiner Arbeit deshalb oft nicht direkt erkennbar.

Angetrieben von diesen Erkenntnissen entschlossen wir uns die Produktentwicklung zu reorganisieren mit dem Ziel möglichst autonome Einheiten mit einem starken Kundenfokus zu schaffen und die Qualität unserer Führung zu verbessern.

Es war absehbar, dass diese Veränderung eine tiefgreifende Reorganisation bedeuten würde – mit allen damit zu erwartenden Schwierigkeiten. Während ich auf die inhaltliche Ausgestaltung nur am Rande eingehen will, liegt der Fokus dieses Beitrags auf der Beschreibung unseres Versuchs diese Reorganisation nicht gewohnt klassisch, d. h. als plötzlich top-down verkündete und sofort umzusetzende Big-Bang-Umstellung zu gestalten, sondern einen moderneren Ansatz mit mehr Beteiligung auszuprobieren.

Top-down erarbeitete Prinzipien

Die Prinzipien für unsere neue Aufbauorganisation haben wir vorab und top-down erarbeitet. Ich war damals Teil einer Führungsebene unterhalb der Abteilungsleitung (CTO und CPO) und wir haben folgende Prinzipien definiert:

  • Wir wollen Einheiten mit klarem Kundenfokus. Jede Einheit soll möglichst autonom an deutlich umrissenen Bedürfnissen von definierten Kunden arbeiten.
  • Führungsspannen begrenzen wir auf maximal zehn direkte Mitarbeiter, die eine Führungskraft entwickeln kann. Dafür haben wir eine neue Rolle und damit auch eine neue Hierarchieebene eingeführt: den Team Lead. 
  • Andererseits haben wir unsere eigene Führungsebene abgeschafft.
  • Wir haben das Prinzip der Doppelspitzen weiter gestärkt, wonach jeder Bereich von einem Head of Product und einem Head of Technology gemeinsam geführt wird.
  • Wir führen tatsächlich multidisziplinäre Teams ein, bei denen beispielsweise die QA genauso integriert ist, wie Mitarbeiter, die ihren Schwerpunkt auf dem Betrieb von Anwendungen haben. Nur sehr spezialisierte Themen werden noch von Querschnittsteams bedient, wie etwa User Research oder die Agile Coaches.
  • Wir wollen eine “atmende Organisation” – nicht eine, die einmal in Stein gegossen so bestehen bleibt, sondern eine, die wir mit ihren jeweiligen Kapazitäten fortlaufend anpassen können an die sich ändernden strategischen Anforderungen.

Mit diesen top-down erarbeiteten Prinzipien, oder auch Zielen, haben wir dann eine Umsetzung mit hoher Beteiligung der Mitarbeiter begonnen.

Umsetzung mit Beteiligung der Mitarbeiter

Nachdem die Prinzipien definiert waren, musste der konkrete Schnitt der Bereiche (die wir nun “Product Areas” nennen) erarbeitet werden. Dazu haben wir einen zweitägigen Workshop mit allen Führungskräften von Product & Technology und den wichtigsten Stakeholdern aus den Fachabteilungen durchgeführt – insgesamt rund 40 Leute. In einem straffen Programm wurden der Schnitt der Product Areas iterativ bis zur fertigen Lösung verfeinert, Stakeholder benannt und Mitarbeiter-Kapazitäten für die einzelnen Product Areas festgelegt.

Mit dieser Entscheidung aller Beteiligten war das Fundament gelegt für die Umsetzung der Reorganisation. Dafür haben wir ein dediziertes Change Team aufgesetzt, das aus folgenden Personen bestand: einer Agile Coach, der Referentin des CTO, dem Kollegen, der die interne Kommunikation verantwortet, unserem Lead Agile Coach und mir. Regelmäßig haben wir uns mit dem CTO als unserem Auftraggeber abgestimmt. Das Change Team hat dann über ein halbes Jahr fast in Vollzeit die weitere inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung des Change-Prozesses übernommen.

Bewerbung auf die Führungspositionen

Die Bildung der neuen Einheiten haben wir möglichst transparent und partizipativ gestaltet: Nachdem feststand, welche neuen Einheiten es geben soll, mussten die Doppelspitzen aus Head of Product und Head of Technology besetzt werden. Ein klassisches Vorgehen wäre es gewesen die vormaligen Führungskräfte durch CTO/CPO auf die neuen Positionen zu verteilen. Stattdessen haben wir einen Aufruf gestartet, wonach sich jeder Mitarbeiter von Product & Technology vertraulich auf die Positionen bewerben konnte. Der CTO und CPO haben daraufhin mit jedem der internen Bewerber ein Gespräch geführt und am Ende des Bewerbungszeitraums entschieden, wer Head of Product und Head of Technology der jeweiligen Product Areas wurde. Bei einigen Positionen mussten wir mangels geeigneter interner Kandidaten extern Kandidaten suchen und einstellen.

Selbstnominierung aller Mitarbeiter

Nachdem auf diese Weise die Head ofs der jeweiligen Product Areas gefunden waren, hatten diese die Aufgabe den Start ihrer Product Area vorzubereiten. Dazu gehörten unter anderem ein Schärfen der Kundenbedürfnisse, an denen die Product Area arbeiten soll, ein erster Entwurf einer strategischen Roadmap und auch das Ausarbeiten der Mitarbeiterqualifikationen, die man für die Product Area benötigt. Mit all diesen Informationen mussten die Head ofs anschließend vor allen Mitarbeitern der Abteilung Product & Technology für ihre Product Area in einem Pitch werben. Ausgehend von den vorgestellten Inhalten und den nun bekannten Führungskräften, durften sich die Mitarbeiter selbst nominieren für die Product Areas, in denen sie arbeiten mochten. Dazu haben sie öffentlich in einer Tabelle einen Erst- bis Drittwunsch eingetragen. Es war jedoch klar, welche Rahmenbedingungen z. B. hinsichtlich Kapazitäten für die Besetzungen gelten würden und dass unter Umständen auch Wünsche nicht erfüllt werden könnten. Als alle Nominierungen vorlagen, haben wir als Change Team gemeinsam mit dem CTO den Entscheidungsprozess zwischen den Head ofs der einzelnen Product Areas moderiert.

Dabei mussten die bisherigen oder potenziell zukünftigen Führungskräfte viel mit den Mitarbeitern sprechen, deren Erstwünsche nicht erfüllt werden konnten. Diese Verpflichtung hatten wir uns selbst auferlegt um einen möglichst fairen Umgang und Dialog mit den Mitarbeitern zu erreichen. Allerdings war der zeitliche Aufwand dafür hoch und nicht alle Führungskräfte haben dies ganz lückenlos geschafft.

Am Ende dieses abstimmungsintensiven Prozesses waren aber die Product Areas mit ihren Head ofs und vor allem den zugeordneten Mitarbeitern bereit. Die Arbeit in den neuen Strukturen konnte losgehen.

Iterative Umsetzung

Wir haben jedoch nicht alle 250 Leute auf einmal reorganisiert. Ganz im Sinne des agilen Vorgehens hatten wir uns auf ein iteratives Vorgehen verständigt, in dem wir das oben beschriebene Vorgehen in mehreren Wellen durchführten. Unser Ziel war es aus den Erfahrungen zu lernen und das Vorgehen danach anzupassen. Tatsächlich haben wir die Reorganisation in zwei Wellen aufgeteilt: Die ersten fünf Product Areas haben wir Anfang Januar 2017 gestartet, die weiteren fünf Mitte Februar 2017.

Kommunikation um Schlimmeres zu verhindern

Gerade wenn man Mitarbeiter so aktiv beteiligt, ist eine ständige, umfassende Kommunikation noch unverzichtbarer als sonst. Es ist kaum vorstellbar, wie schnell Gerüchte und Befürchtungen entstehen und sich verbreiten, die falsch sind, aber für umfassende Verunsicherung sorgen können. Um dies so gut es geht zu vermeiden und eine Beteiligung überhaupt zu ermöglichen, hatten wir uns eine Reihe von Kommunikationsmaßnahmen überlegt:

  • Zu den eher klassischen Kommunikationsmaßnahmen bei solch einem Vorhaben zählt sicher der Newsletter, den wir mit Updates und den nächsten Schritten im Veränderungsprozess jede Woche an alle Mitarbeiter verschickt haben.
  • Ebenso gab es im Verlauf des Prozesses mehrere Informationsveranstaltungen, bei denen aktuelle Zwischenstände der Veränderung persönlich vorgestellt wurden und Fragen möglich waren.
  • Außerdem haben wir eine FAQ angelegt und fortwährend erweitert, in der wir die unterschiedlichsten Fragen beantworteten und häufige Missverständnisse ausräumten: von der genauen Bedeutung einer neuen Rolle bis hin zu unzähligen Fragen betreffend den Prozess der Selbstnominierung.
  • Um schneller und auch stärker in beide Richtungen kommunizieren zu können, hatten wir im Instant Messenger unserer Firma einen permanenten, öffentlichen Chat-Raum eingerichtet, in dem wir einerseits im Twitter-Stil fortlaufend über Neuigkeiten berichtet haben und andererseits auch Fragen beantwortet.
  • Weiterhin hatten wir aus den verschiedenen Gruppen der vom Change betroffenen einzelne Repräsentanten gewonnen, die sogenannten „Change-Begleiter“. Mit diesen haben wir uns regelmäßig getroffen mit drei Zielen:
    • Wir wollten von ihnen direkter die Stimmung in der Organisation gespiegelt bekommen.
    • Vor wichtigen Entscheidungen und zu den jeweils nächsten Schritten haben wir uns von ihnen Feedback zum von uns geplanten Vorgehen geholt.
    • Außerdem sollten sie als Multiplikatoren Informationen auch zusätzlich zurück in die Organisation tragen.

Die Methoden haben unterschiedlich gut funktioniert. Der Newsletter und die Präsenzveranstaltungen waren notwendig und wirkten, wie man es klassisch kennt. Auf die FAQ konnten wir sehr regelmäßig bei Fragen verweisen, allerdings wurden sie aktiv doch eher selten gelesen. Die Kommunikation in einem eigenen Chat-Raum funktionierte hervorragend. Die Hemmschwelle der Kommunikation war für die Mitarbeiter sehr gering, da der Instant Messenger ihr tägliches Arbeitstool ist und minimalen Aufwand erfordert. Auch kleine Unsicherheiten kamen deshalb direkt zu uns und wir konnten sie schnell ausräumen. Durch die öffentliche Kommunikation wurden dabei sicher auch Fragen beantwortet, die zwar manchen beschäftigten, aber die nur ein Mitarbeiter wirklich stellte. Die Change-Begleiter haben für uns weniger gut funktioniert. Die eingebrachten Stimmungen waren häufig erkennbar die subjektiv eigenen und wir konnten schlecht einschätzen, wie repräsentativ sie wirklich waren. Das Feedback zu unseren Vorhaben haben wir selten gut verwertet, was aber vermutlich daran lag, dass wir zu spät oder nicht strukturiert genug danach gefragt hatten. Der Multiplikatoreneffekt war aus meiner Sicht auch eher überschaubar.

Insgesamt ist mein persönliches Fazit jedoch, dass trotz intensiver Bemühungen um eine gute Kommunikation und eine möglichst transparente Vorgehensweise in einer Organisation von 250 Leuten unglaublich viele Informationsbedarfe unbefriedigt blieben und auch sehr abwegige Gerüchte sich tapfer allen Aufklärungsversuchen widersetzten. Nichtsdestotrotz halte ich eine umfassende Kommunikation in beide Richtungen für enorm wichtig. Mit weniger Kommunikation wäre der Change vermutlich deutlich chaotischer abgelaufen.

Erkenntnisse

Was habe ich aus dieser Reorganisation gelernt? Eine Menge! Quer durch alle Themenbereiche sind dies meine zusammengefassten Erkenntnisse:

  • Wir hatten ein Change Team aus fünf Personen, von denen einige Vollzeit und einige zu wesentlichen Teilen ihrer Arbeitszeit an der Reorganisation gearbeitet haben. Das klingt zunächast sehr komfortabel. Andererseits hatten wir alle mehr als ausreichend zu tun und ich glaube, dass das von uns beschrittene Vorgehen nicht möglich gewesen wäre ohne diese intensive Begleitung. Umgekehrt merken wir auch seit der Auflösung des Change Teams, dass weiterhin nötige Arbeiten und Feinjustierungen an der Reorganisation nicht statt finden, was uns schadet. Insgesamt glaube ich heute, dass es unverantwortlich wäre eine Reorganisation solcher Ausmaße ohne diese dedizierte Begleitung zu starten.
  • Einen solchen Change wesentlich mit zu gestalten ist auf jeden Fall eine anspruchsvolle und gleichzeitig undankbare Aufgabe und erfordert stabile Persönlichkeiten. Wie auch immer du es anstellst, machst du es aus irgendeiner Sicht dennoch komplett falsch. Mein persönliches Lowlight war die Bemerkung eines Kollegen zu der großen Transparenz, die wir die ganze Zeit über herstellten und dabei natürlich auch Zwischenstände offen kommunizierten, die noch nicht fertig waren und sich auf Grund des agilen Vorgehens noch ändern konnten:

Es ist total blöd, dass ich bei dieser Reorganisation noch gar nicht weiß, wie genau es für mich ausgehen wird. Bei den vorhergehenden Reorganisationen wurde einfach irgendwann aus heiterem Himmel gesagt, wie die neue Struktur ist und so war das dann. Das war viel besser.

Der Vorteil, dass er so früh wie möglich informiert war und aktiv Einfluss nehmen konnte, wurde hier nur als Nachteil gesehen.

  • Der Fähigkeitenmix im Change Team war ein Glücksfall für uns: Es ist unwahrscheinlich wertvoll einen Kommunikationsprofi bei solch einem Unterfangen operativ dabei zu haben. Ebenso wichtig waren die Agile Coaches mit ihrem Wissen um Methoden zur systematischen Beteiligung von Leuten. Die CTO-Referentin brachte ihr weit verzweigtes Netzwerk und das Wissen um spezielle Bedürfnisse von einzelnen Gruppen ein. Die Diversität hat uns sehr geholfen.
  • Eine interessante und auf den ersten Blick rückwärtsgewandte Veränderung war die Einführung einer zusätzlichen Hierarchiestufe durch die neue Rolle des Team Leads. Ich halte diesen Schritt nach wie vor für richtig für das Ziel eine bessere Führung und Entwicklung von Mitarbeitern sicherzustellen. Dazu werde ich in einem zukünftigen Artikel mehr schreiben – auch zu der damit verbundenen Trennung von fachlicher und disziplinarischer Führung.
  • Auch mit dem iterativen Ansatz haben wir nur zwei Wellen für die Umsetzung gewählt. Das war gut so. Tatsächlich könnte ich mir heute sogar eine Umstellung als Big Bang in einem Schritt vorstellen. Es verursacht eine Menge unangenehmer Seiteneffekte, wenn die Veränderung eine Weile dauert:
    • Akteure verschwenden mehr Energie auf politische Beeinflussung, wie ich das auch schon im Falle der Nachbesetzung einer früheren Rolle von mir erfahren musste.
    • Mitarbeiter, die auf die späteren Product Areas warten mussten, waren eher unkonzentriert, nachdem die ersten Kollegen schon in neuen Strukturen arbeiteten, sie aber noch nicht. Die Fokussierung auf Ergebnisse geht schnell verloren, wenn man absehbar nicht mehr lange in der derzeitigen Struktur arbeitet.
    • Dadurch, dass alte Strukturen sich beginnen aufzulösen, während die neuen erst nach und nach entstehen, wird die Übergangszeit komplex: bezüglich der disziplinarischen Mitarbeiterverantwortung, bezüglich der Verantwortung für Komponenten, bezüglich der Vorgabe von Zielen und so weiter. Das verursacht Doppelbelastungen und Schmerzen an vielen Stellen in der Organisation.
  • Um Akzeptanz für die Reorganisation zu erhöhen (die ja auch sicher nicht die letzte gewesen sein wird) ist es empfehlenswert von Anfang an sicherzustellen, dass ihr Erfolg messbar ist. Wir haben das so halb geschafft, indem wir zeigen konnten, dass sich Abhängigkeiten zwischen den Product Areas verringert haben. Damit messen wir aber nur die Erreichung eines unserer Ziele für die Reorganisation. 
  • Bei der freien Nominierung der Mitarbeiter zu Product Areas befürchteten viele, dass dies zu unkontrollierbaren Wanderbewegungen der Mitarbeiter führen könnte. Tatsächlich änderte sich bei freier Wahl weniger als gedacht. Viele Mitarbeiter wollten glücklicherweise  das weitermachen, was sie bisher taten. Insofern ist die freie Nominierung nicht so unvorstellbar riskant, wie es oft vermutet wird.
  • Die Wanderbewegungen von Mitarbeitern, die aber auftreten, sind dafür umso wichtiger. Hier gab es unter Umständen eine ernste Unzufriedenheit mit den eigenen Aufgaben oder der eigenen Führungskraft. Die Möglichkeit zu einer Veränderung durch die Reorganisation hat eventuell eine Kündigung verhindert und ermöglicht dem Mitarbeiter stärker entsprechend seiner Wünsche und Kenntnisse zu arbeiten.
  • Unter dem Strich war die Beteiligung und Wahlfreiheit der Mitarbeiter auf jeden Fall wertvoll. Im Ergebnis haben wir heute Product Areas mit Teams aus Mitarbeitern, die zum größten Teil auf eigenen Wunsch genau dort und genau an diesen Themen arbeiten. Der Prozess kostet allerdings auch viel Energie, insbesondere, wenn man ihn zum ersten Mal durchführt.
  • Beispielsweise der dadurch entstandene Wettbewerb um Mitarbeiter ist durchaus kritisch zu sehen. Je nach Charakterstärke der ausgewählten Führungskräfte und ihrer Fähigkeit auf das Wohl der gesamten Firma zu sehen, anstatt nur auf den Erfolg ihrer eigenen Product Area, können auch kontraproduktive Diskussionen entstehen. Wir hatten davon ein paar negativ-eindrucksvolle – vor allem im Zusammenhang mit der Kapazität an Mitarbeitern, die für die neuen Product Areas geplant waren.
  • Der vorgenannte Punkt des Denkens zugunsten der Gesamtorganisation lässt sich generell nicht gut durch eine Reorganisation umsetzen. Aus meiner Sicht jedenfalls sind wir mit diesem Ziel gescheitert. Wir haben alte Silos durch neue (allerdings bessere) Silos ersetzt. Vermutlich ist das gesamtheitliche Denken eine nur langfristig zu erreichende Kulturänderung, die nicht einfach durch eine Reorganisation, sondern nur durch entsprechende Führung und Vorleben erreicht werden kann.
  • Im gleichen Sinne sind wir gescheitert eine atmende Organisation zu etablieren, die sich fortwährend an die strategischen Bedürfnisse anpasst und Kapazitäten entsprechend priorisiert einsetzt. Auch in unserem Fall war zu beobachten, dass jegliche Struktur dazu tendiert sich selbst zu festigen. Hier ist ebenfalls eine Kulturänderung auf verschiedenen Ebenen notwendig, die in unserer Reorganisation nicht statt fand.
  • Der Ansatz, dass sich jeder auf die neuen Führungspositionen bewerben durfte und keine Besetzung aus alten Zeiten feststand, war sehr wertvoll. Auf diese Weise kamen alle Führungspositionen auf den Prüfstand. Frühere Führungskräfte, die eigentlich andere Stärken hatten, aber aus diversen Gründen eben zu Führungskräften gemacht worden waren, gingen nun in andere Positionen, die ihren Fähigkeiten viel besser entsprechen. Vielversprechende und geeignete Mitarbeiter konnten dafür eine Führungsposition einnehmen. Meiner Meinung nach haben wir dadurch eine Verbesserung der Führungsstruktur erreicht. 
  • Natürlich werden vielversprechende und potenziell geeignete junge Führungskräfte aber nicht von allein auch praktisch zu guten Führungskräften. Wir haben sehr viele Führungspositionen besetzt mit Mitarbeitern, für die das Thema neu ist – insbesondere auch bei der neuen Rolle der Team Leads war das fast flächendeckend der Fall. Wenn man den Mut hat das zu tun, muss man auch entsprechend in den Aufbau der Führungskräfte investieren um sie nicht zu verbrennen. Wir haben dazu einerseits konzentriert viele Standard-Schulungen von Beginn an eingeplant und entwickeln andererseits die Kollegen fortlaufend fort, u. a. mittels regelmäßiger Führungskräfteworkshops. Zu diesem Thema werde ich ebenfalls einen separaten Artikel schreiben.
  • Organisationsentwicklung ist eine andauernde Aufgabe. Bei uns kommt das Thema derzeit aber etwas kurz, da die Organisation das Gefühl verspürt „nach der Reorganisation“ erst einmal „durchatmen“ zu müssen, was typisch und verständlich ist. Allerdings sind noch Themen zu bearbeiten, z. B. funktioniert bei uns die QA in den multidisziplinären Teams noch nicht optimal. Der übergreifende Austausch ist nicht ausreichend organisiert und die einzelnen QA-Mitarbeiter können deshalb nur begrenzte individuelle Impulse für die eigene Weiterentwicklung bekommen. Solche Dinge bleiben liegen, wenn es keinen aktiven Treiber gibt, und das ist nicht optimal.

Ausblick und Fazit

Wie kann es weitergehen?

Ich glaube es gilt wie immer: Nach dem Change ist vor dem Change. Aus aufbauorganisatorischer Sicht haben wir – natürlich – weiteres Potenzial für eine noch effizientere Organisation. Ich kann mir sehr gut eine wahrhaft kundenorientierte Organisation vorstellen, die über die Produktentwicklung hinaus andere Funktionen des Unternehmens integriert und komplett eigenständige Einheiten bildet, die für definierte Kunden arbeiten. So würden Abhängigkeiten weiter reduziert, Flexibilität und Geschwindigkeit erhöht und weitere Skalierbarkeit ermöglicht ohne Bürokratie- und Prozessmonster zu erschaffen. Auf dem Weg dorthin wäre die aktuelle Organisation eine – meiner Meinung nach notwendige – Zwischenform. Ich freue mich jedenfalls auf weitere Schritte, die wir noch gehen müssen. Doch nicht nur die nächsten großen Schritte müssen gegangen werden, sondern auch einige kleine, die das bisher Erreichte komplettieren.  

Würde ich solch eine große Reorganisation wieder persönlich mitgestalten wollen? Es ist sicher eine eher undankbare Aufgabe, da man es aus der Sicht mindestens einzelner Mitarbeiter sowieso immer verkehrt macht. Andererseits hat es sehr viel Spaß gemacht genau hier neue Ansätze mit stärkerer Beteiligung auszuprobieren und umzusetzen. Wahrscheinlich gibt es auch Sichtweisen, wonach es effizienter gewesen wäre eine klassisch per Management-Order verkündete Reorganisation durchzuführen. Das hielte ich für eine grobe Fehleinschätzung. Alle Reorganisationen, die ich bisher miterlebt habe und die ausschließlich im Modus „top-down“ passierten, endeten in der Regel mit wesentlich mehr Chaos, wesentlich mehr Frust bei den Mitarbeitern und wesentlich weniger und auch weniger nachhaltigem Effekt im Ergebnis. Insbesondere wurden dabei fast nie offensichtliche Probleme hinterfragt und korrigiert, was wir an sehr vielen Stellen getan haben. Nach ein bisschen Erholung könnte ich mir das also vorstellen…

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6 Gedanken zu „Versuch einer modernen Reorganisation

  1. Hallo Jan,

    ich bin eben über XING auf Deinen Artikel aufmerksam geworden. Finde ich sehr interessant zu lesen. Und ich finde es auch bemerkenswert, dass es Dir möglich ist (bzw. erlaubt ist), über ein großes internes Strukturprojekt so ausführlich öffentlich zu reflektieren. Spricht in jedem Fall für die Unternehmenskultur, denke ich.

    Falls es Dir nichts ausmacht, hätte ich noch zwei Fragen:

    1. Du beschreibst ja die Restrukturierung der Aufbauorganisation. Aber wie verhielt es sich mit der Ablauforganisation? Wurden bereits im Vorfeld neue (= gewünschte) Prozesse definiert, oder überließ man das den neuen Teams, solche zu gestalten?
    Kam es in diesem Zusammenhang zu Konflikten, die das Change Team so nicht erwartet hatte?

    2. Mich würde noch die Grundstimmung der Belegschaft zum Zeitpunkt des Projektbeginns interessieren. Ich glaube, es gibt viele Unternehmen, in denen eine derart transparent gestaltete Neu-Strukturierung Sinn machen würde. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass man dazu eine sehr positive und optimistische Grundstimmung („Wir sind sehr gut! Wir kennen die Herausforderungen des Marktes! Wir wollen noch besser werden!“) benötigt, weil allen Beteiligten viel abverlangt wird und Durchhaltevermögen erforderlich ist.
    Im Sanierungs-Szenario („Wenn wir weitermachen wie bisher, wird es bergab gehen!“) kann ich mir die Herangehensweise irgendwie nicht so gut vorstellen, weil die Verlustängste Einzelner den Fortschritt blockieren würden.
    Hast Du eine Meinung zu diesem Aspekt?

    Viele Grüße,

    Axel

    1. Hallo Axel,

      vielen Dank für dein Feedback – das freut mich sehr!

      Generell versuchen wir eher offen zu sein und den Austausch zu suchen, weil wir glauben, dass alle Seiten davon profitieren. Und deiner Äußerung nach schafft das ja tatsächlich einen positiven Eindruck von idealo. 🙂

      Gerne versuche ich natürlich auch deine Fragen zu beantworten.

      Zu 1.:
      Generell haben wir in der Reorganisation einen starken Fokus auf die Aufbauorganisation gelegt. Parallel wurde zwar unser firmenweiter Strategieprozess verfeinert, aber das fand eher unabhängig voneinander und nur quasi zufällig parallel statt.
      Wenn man auf die Ebene der einzelnen Product Areas schaut, so haben wir dort sehr bewusst wenige Vorgaben gemacht, weil wir möchten, dass die Führungskräfte, also die jeweiligen Head of Technology und Head of Product, die Verantwortung übernehmen und selbst gestalten können. Entsprechend konnten sie Prozesse optimieren (oder definieren), wo sie das selbst als notwendig empfanden.
      Allgemein geben wir bei idealo nicht viele Prozesse global vor. Beispielsweise arbeiten manche unserer Teams nach Scrum, andere hingegen nach Kanban. Das können sie eigenverantwortlich entscheiden.
      Auf einer anderen Ebene war es hingegen wichtig im Rahmen der Reorganisation auch die Prozesse zu schärfen, nämlich in der Zusammenarbeit und dem Austausch zwischen den Product Areas. Hier haben wir Meeting-Formate definiert, allerdings ist damit bei weitem noch nicht alles erreicht, wie schon im Beitrag angedeutet.
      Persönlich würde ich auch dazu tendieren, nicht zu viele Dinge parallel zu ändern um die Organisation nicht zu überfordern. Die strukturelle Änderung war tiefgreifend genug und hat eigentlich den Grundstein gelegt. Davon ausgehend können nun nachgelagert Arbeitsprozesse im Kleinen optimiert werden.

      Zu 2.:
      Im Kern hatten und haben wir bei idealo eine sehr positive Grundstimmung und den Willen Dinge schnell umzusetzen und damit unser gesamtes Produkt voran zu bringen. Eben diese Einstellung bewirkte aber, dass die Firma und auch insbesondere wir als Change Team und unser Auftraggeber, der CTO, sehr stark hinterfragt haben, ob uns eine Reorganisation zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt schneller und nicht vielleicht stattdessen langsamer macht. Insofern war die Motivation kein Selbstläufer. Und auch in einer solchen Reorganisation mit sehr positivem Geschäftsausblick entstehen unweigerlich bei Einzelnen dennoch Existenzängste.
      Umgekehrt glaube ich jedoch, dass es auch in dem zweiten von dir beschriebenen Szenario „Wenn wir weitermachen wie bisher, wird es bergab gehen!“ möglich ist Verständnis und Kooperationsbereitschaft zu erzeugen. Dazu muss man die Notwendigkeit der Veränderung ehrlich transparent machen. Auch dann wird man natürlich mit irrationalen Ängsten zu tun haben, aber eine Kooperationsbereitschaft, die eine hohe Beteiligung der Mitarbeiter ermöglicht, sollte dennoch zu erreichen sein. Ich glaube man sollte nicht die Verständigkeit der eigenen Mitarbeiter unterschätzen. Die allermeisten können auch mit einem negativen Geschäftsausblick umgehen und sind willens konstruktiv an einer Verbesserung mitzuwirken, wenn sie sich ehrlich informiert und ernst genommen fühlen.
      Anders sieht es vermutlich aus, wenn die Veränderung lautet: „Wir müssen 30% der Belegschaft abbauen – überlegt euch mal, wie.“ In dem Falle glaube ich auch nicht an eine konstruktive Zusammenarbeit aller Beteiligter.

      Ich hoffe die Antworten helfen bei den Fragen ein wenig.

      Vielen Dank und viele Grüße!
      Jan

  2. Hallo Jan,

    herzlichen Dank auch von meiner Seite für den anschaulichen Beitrag. Besonders interessant finde ich die strikte Ausrichtung der neuen Organisation auf die zukünftige Idealo-Produkte und die perspektivisch strikte Kundenorientierung.
    Hierzu habe ich eine Frage, denn sicherlich teilen sich mehrere Endprodukte bestimmte Teile des Stacks, wie z.B. Frameworks oder Stammdatenmanagement.

    Meine Frage ist also, wie ihr in der neuen Organisation mit Komponenten des idealo Stacks umgeht, die sich nicht einem einzigen Endprodukt direkt zuordnen lassen? Betrachtet ihr sie als Zwischenprodukte und orientiert sie an den Bedürfnissen der internen Kunden (=Endprodukte)? Oder wie sonst?

    Vielen Dank für deine Antwort!

    Beste Grüße,
    Thomas

    1. Hallo Thomas,

      vielen Dank für das Feedback!

      Mit deiner Frage adressierst du sehr treffsicher eine der schwierigsten Herausforderungen. 🙂 Zunächst einmal ist es in der Tat so, dass ich es in der Regel nie (wirtschaftlich sinnvoll) schaffen kann, die gesamte Anwendungslandschaft vollständig disjunkt so zu zerlegen, dass alle Produktentwicklungseinheiten vollständig autonom arbeiten können. Umgekehrt bedeutet das, dass wir versuchen Schnittstellen zu minimieren, aber wir werden sie nicht eliminieren können.

      Wenn wir zu konkreten technischen Komponenten kommen, gibt es natürlich auch solche, die nicht klar zu einer Produktentwicklungseinheit für ein Kundenbedürfnis zuordenbar sind. Hier kann man zwei Fälle unterscheiden:

      – Wird die Komponente von wenigen Produktentwicklungseinheiten genutzt, so muss diejenige sie übernehmen und verantworten, die sie am meisten nutzt (bzw. am häufigsten Änderungswünsche daran hat). Sie muss dann auch das Produktmanagement für diese Komponente als internes Produkt übernehmen und die Anforderungen der anderen Einheiten berücksichtigen.

      – Wird die Komponente hingegen von sehr vielen oder fast allen Produktentwicklungseinheiten verwendet, wird sie damit zu einer Art „Infrastruktur“. Hierfür haben wir eine eigene Produktentwicklungseinheit „Platform Operations“, die ausschließlich interne Produkte bereitstellt, diese aber genau so managed, wie wir es für externe Kunden tun würden. Für Stammdatenmanagement oder die zentrale Erfassung aller operativer Daten, z. B. in Form eines DWH oder Data Lake, gibt es wiederum andere Einheiten, die diese übergreifenden, querschnittlichen Themen als internes Produkt verantworten.

      Sehr wichtig ist es jedoch, dass wirklich jede Komponente zugeordnet wird und keine „Zombie-Komponenten“ übrig bleiben. Früher oder später (meist früher) taucht nämlich eine Anforderung an oder ein Bug in einer solchen Komponente auf und dann hat man in der Regel nicht die Zeit zunächst die Zuständigkeit zu klären. Natürlich sind die Übergaben der Komponenten an die entsprechenden Produktentwicklungseinheiten unter Umständen weder einfach noch beliebt. Sie haben jedoch auch einen positiven Effekt auf die Gesamtarchitektur: Wenn Teams den Schmerz veralteter Software selbst spüren, wird die Motivation viel größer solche Software abzuschalten oder zu ersetzen.

      Ich hoffe das hilft ein bisschen.

      Viele Grüße!
      Jan

  3. Hallo Jan,

    spannend zu lesen. Holt für mich den Wandel aus vielen guten Büchern (z.B. The Phoenix Project) in die Realität. Ich frag mich aber bis zu welcher Unternehmensgröße Product Area Workshops produktive Ergebnisse bringen. Firmen wie Allianz, BMW, MunichRE kennen ihre Areas wohl, aber ich fühle mich oft als würde ich für die Organisation und nicht für den Kunden arbeiten. Ein direktes Symptom sind dann entsprechend schlecht formulierte User Stories im Backlog ohne erkennbaren Kundennutzen.

    Die letzte Erfahrung in einem Product Area Workshop war: Anschließend waren die beiden anwesenden Abteilungsleiter im Projekt nicht mehr gesehen.

    Wie hast Du es geschafft das Management von der Notwendigkeit des teuren Wandels zu überzeugen? Wie kann man das Thema in Organisationen > 500 Mitarbeitern angehen?

    Viele Grüße,
    Michael

    1. Hallo Michael,

      vielen Dank für das Teilen deiner Erfahrungen!

      Was du schreibst, kann ich gut nachvollziehen. Ich glaube die Größe des Unternehmens spielt eine Rolle, aber vor allem ist es eine Frage der Haltung. Auch ein großes Unternehmen kann kundenorientiert sein. Das muss aber vorgelebt und eingefordert werden. Ein Kulturwandel, der über längere Zeit vorangetrieben werden muss und ja, auch und insbesondere vom Management.
      Ich glaube übrigens keineswegs, dass der Wandel teuer ist. Im Gegenteil: Wer sich wandelt, am Kunden ausrichtet und schneller Dinge ausprobiert, wird erfolgreicher sein. Wer sich nicht wandelt, für den wird es langfristig teuer. Aber auch das ist zunächst eine Überzeugung, die in den Köpfen verankert sein muss.
      Diesen Gedanken in eine traditionelle Unternehmung zu tragen ist zweifelsohne schwer. Man kann es vorleben und möglichst viele davon überzeugen. Wahr ist allerdings auch, dass das umso effektiver funktioniert, je höher in der Organisationshierarchie dieser Ansatz unterstützt wird.

      Viele Grüße!
      Jan

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