Moderne Führung und Agilität

Versuch einer modernen Reorganisation

Reorganisationen sind eine meist ungeliebte Veränderung im Unternehmen. Das haben sie mit fast allen Veränderungen gemein, doch sind hier die Mitarbeiter auch noch sehr direkt und persönlich betroffen.

Motivation: Mehr Kundenfokus

Bei idealo standen wir Mitte 2016 vor der Erkenntnis, dass unsere Abteilung für die Produktentwicklung “Product & Technology” organisatorisch nicht optimal aufgestellt war. Ungefähr 250 Mitarbeiter, vor allem Entwickler und Produktmanager, arbeiteten dort in verschiedenen Bereichen.

Bei idealo entwickeln wir derzeit unser Geschäftsmodell weiter vom reinen Preisvergleich zum vollumfänglichen Shopping-Portal, auf dem ich auch direkt kaufen kann, ohne noch zum einzelnen Shop zu müssen. Diese grundlegende Veränderung zog viele Projekte nach sich, an denen mehrere Produktentwicklungsbereiche gemeinsam mitwirken mussten und darin waren wir nicht gut. Die Priorisierung im Vorfeld fiel uns schwer, aber auch die Konzeption und die Koordination in der Ausführung. Der Abstimmungsaufwand machte uns langsam.

Weiterhin hatten wir bei den technischen Mitarbeitern eine Struktur, bei der Führungskräfte bis zu 20 Mitarbeiter direkt führten, im Extremfall sogar knapp 30. Bei solch einer Führungsspanne ist eine gute Mitarbeiterentwicklung sehr schwierig.

Außerdem hatten wir die bisherigen Bereiche entlang der Wertschöpfungskette geschnitten. Das führte dazu, dass es keinen starken Kundenfokus gab, da jeder Bereich immer nur einen Teil der letztlichen Lösung beisteuerte. Für den einzelnen Mitarbeiter war die Sinnhaftigkeit seiner Arbeit deshalb oft nicht direkt erkennbar.

Angetrieben von diesen Erkenntnissen entschlossen wir uns die Produktentwicklung zu reorganisieren mit dem Ziel möglichst autonome Einheiten mit einem starken Kundenfokus zu schaffen und die Qualität unserer Führung zu verbessern.

Es war absehbar, dass diese Veränderung eine tiefgreifende Reorganisation bedeuten würde – mit allen damit zu erwartenden Schwierigkeiten. Während ich auf die inhaltliche Ausgestaltung nur am Rande eingehen will, liegt der Fokus dieses Beitrags auf der Beschreibung unseres Versuchs diese Reorganisation nicht gewohnt klassisch, d. h. als plötzlich top-down verkündete und sofort umzusetzende Big-Bang-Umstellung zu gestalten, sondern einen moderneren Ansatz mit mehr Beteiligung auszuprobieren.

Top-down erarbeitete Prinzipien

Die Prinzipien für unsere neue Aufbauorganisation haben wir vorab und top-down erarbeitet. Ich war damals Teil einer Führungsebene unterhalb der Abteilungsleitung (CTO und CPO) und wir haben folgende Prinzipien definiert:

Mit diesen top-down erarbeiteten Prinzipien, oder auch Zielen, haben wir dann eine Umsetzung mit hoher Beteiligung der Mitarbeiter begonnen.

Umsetzung mit Beteiligung der Mitarbeiter

Nachdem die Prinzipien definiert waren, musste der konkrete Schnitt der Bereiche (die wir nun “Product Areas” nennen) erarbeitet werden. Dazu haben wir einen zweitägigen Workshop mit allen Führungskräften von Product & Technology und den wichtigsten Stakeholdern aus den Fachabteilungen durchgeführt – insgesamt rund 40 Leute. In einem straffen Programm wurden der Schnitt der Product Areas iterativ bis zur fertigen Lösung verfeinert, Stakeholder benannt und Mitarbeiter-Kapazitäten für die einzelnen Product Areas festgelegt.

Mit dieser Entscheidung aller Beteiligten war das Fundament gelegt für die Umsetzung der Reorganisation. Dafür haben wir ein dediziertes Change Team aufgesetzt, das aus folgenden Personen bestand: einer Agile Coach, der Referentin des CTO, dem Kollegen, der die interne Kommunikation verantwortet, unserem Lead Agile Coach und mir. Regelmäßig haben wir uns mit dem CTO als unserem Auftraggeber abgestimmt. Das Change Team hat dann über ein halbes Jahr fast in Vollzeit die weitere inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung des Change-Prozesses übernommen.

Bewerbung auf die Führungspositionen

Die Bildung der neuen Einheiten haben wir möglichst transparent und partizipativ gestaltet: Nachdem feststand, welche neuen Einheiten es geben soll, mussten die Doppelspitzen aus Head of Product und Head of Technology besetzt werden. Ein klassisches Vorgehen wäre es gewesen die vormaligen Führungskräfte durch CTO/CPO auf die neuen Positionen zu verteilen. Stattdessen haben wir einen Aufruf gestartet, wonach sich jeder Mitarbeiter von Product & Technology vertraulich auf die Positionen bewerben konnte. Der CTO und CPO haben daraufhin mit jedem der internen Bewerber ein Gespräch geführt und am Ende des Bewerbungszeitraums entschieden, wer Head of Product und Head of Technology der jeweiligen Product Areas wurde. Bei einigen Positionen mussten wir mangels geeigneter interner Kandidaten extern Kandidaten suchen und einstellen.

Selbstnominierung aller Mitarbeiter

Nachdem auf diese Weise die Head ofs der jeweiligen Product Areas gefunden waren, hatten diese die Aufgabe den Start ihrer Product Area vorzubereiten. Dazu gehörten unter anderem ein Schärfen der Kundenbedürfnisse, an denen die Product Area arbeiten soll, ein erster Entwurf einer strategischen Roadmap und auch das Ausarbeiten der Mitarbeiterqualifikationen, die man für die Product Area benötigt. Mit all diesen Informationen mussten die Head ofs anschließend vor allen Mitarbeitern der Abteilung Product & Technology für ihre Product Area in einem Pitch werben. Ausgehend von den vorgestellten Inhalten und den nun bekannten Führungskräften, durften sich die Mitarbeiter selbst nominieren für die Product Areas, in denen sie arbeiten mochten. Dazu haben sie öffentlich in einer Tabelle einen Erst- bis Drittwunsch eingetragen. Es war jedoch klar, welche Rahmenbedingungen z. B. hinsichtlich Kapazitäten für die Besetzungen gelten würden und dass unter Umständen auch Wünsche nicht erfüllt werden könnten. Als alle Nominierungen vorlagen, haben wir als Change Team gemeinsam mit dem CTO den Entscheidungsprozess zwischen den Head ofs der einzelnen Product Areas moderiert.

Dabei mussten die bisherigen oder potenziell zukünftigen Führungskräfte viel mit den Mitarbeitern sprechen, deren Erstwünsche nicht erfüllt werden konnten. Diese Verpflichtung hatten wir uns selbst auferlegt um einen möglichst fairen Umgang und Dialog mit den Mitarbeitern zu erreichen. Allerdings war der zeitliche Aufwand dafür hoch und nicht alle Führungskräfte haben dies ganz lückenlos geschafft.

Am Ende dieses abstimmungsintensiven Prozesses waren aber die Product Areas mit ihren Head ofs und vor allem den zugeordneten Mitarbeitern bereit. Die Arbeit in den neuen Strukturen konnte losgehen.

Iterative Umsetzung

Wir haben jedoch nicht alle 250 Leute auf einmal reorganisiert. Ganz im Sinne des agilen Vorgehens hatten wir uns auf ein iteratives Vorgehen verständigt, in dem wir das oben beschriebene Vorgehen in mehreren Wellen durchführten. Unser Ziel war es aus den Erfahrungen zu lernen und das Vorgehen danach anzupassen. Tatsächlich haben wir die Reorganisation in zwei Wellen aufgeteilt: Die ersten fünf Product Areas haben wir Anfang Januar 2017 gestartet, die weiteren fünf Mitte Februar 2017.

Kommunikation um Schlimmeres zu verhindern

Gerade wenn man Mitarbeiter so aktiv beteiligt, ist eine ständige, umfassende Kommunikation noch unverzichtbarer als sonst. Es ist kaum vorstellbar, wie schnell Gerüchte und Befürchtungen entstehen und sich verbreiten, die falsch sind, aber für umfassende Verunsicherung sorgen können. Um dies so gut es geht zu vermeiden und eine Beteiligung überhaupt zu ermöglichen, hatten wir uns eine Reihe von Kommunikationsmaßnahmen überlegt:

Die Methoden haben unterschiedlich gut funktioniert. Der Newsletter und die Präsenzveranstaltungen waren notwendig und wirkten, wie man es klassisch kennt. Auf die FAQ konnten wir sehr regelmäßig bei Fragen verweisen, allerdings wurden sie aktiv doch eher selten gelesen. Die Kommunikation in einem eigenen Chat-Raum funktionierte hervorragend. Die Hemmschwelle der Kommunikation war für die Mitarbeiter sehr gering, da der Instant Messenger ihr tägliches Arbeitstool ist und minimalen Aufwand erfordert. Auch kleine Unsicherheiten kamen deshalb direkt zu uns und wir konnten sie schnell ausräumen. Durch die öffentliche Kommunikation wurden dabei sicher auch Fragen beantwortet, die zwar manchen beschäftigten, aber die nur ein Mitarbeiter wirklich stellte. Die Change-Begleiter haben für uns weniger gut funktioniert. Die eingebrachten Stimmungen waren häufig erkennbar die subjektiv eigenen und wir konnten schlecht einschätzen, wie repräsentativ sie wirklich waren. Das Feedback zu unseren Vorhaben haben wir selten gut verwertet, was aber vermutlich daran lag, dass wir zu spät oder nicht strukturiert genug danach gefragt hatten. Der Multiplikatoreneffekt war aus meiner Sicht auch eher überschaubar.

Insgesamt ist mein persönliches Fazit jedoch, dass trotz intensiver Bemühungen um eine gute Kommunikation und eine möglichst transparente Vorgehensweise in einer Organisation von 250 Leuten unglaublich viele Informationsbedarfe unbefriedigt blieben und auch sehr abwegige Gerüchte sich tapfer allen Aufklärungsversuchen widersetzten. Nichtsdestotrotz halte ich eine umfassende Kommunikation in beide Richtungen für enorm wichtig. Mit weniger Kommunikation wäre der Change vermutlich deutlich chaotischer abgelaufen.

Erkenntnisse

Was habe ich aus dieser Reorganisation gelernt? Eine Menge! Quer durch alle Themenbereiche sind dies meine zusammengefassten Erkenntnisse:

Es ist total blöd, dass ich bei dieser Reorganisation noch gar nicht weiß, wie genau es für mich ausgehen wird. Bei den vorhergehenden Reorganisationen wurde einfach irgendwann aus heiterem Himmel gesagt, wie die neue Struktur ist und so war das dann. Das war viel besser.

Der Vorteil, dass er so früh wie möglich informiert war und aktiv Einfluss nehmen konnte, wurde hier nur als Nachteil gesehen.

Ausblick und Fazit

Wie kann es weitergehen?

Ich glaube es gilt wie immer: Nach dem Change ist vor dem Change. Aus aufbauorganisatorischer Sicht haben wir – natürlich – weiteres Potenzial für eine noch effizientere Organisation. Ich kann mir sehr gut eine wahrhaft kundenorientierte Organisation vorstellen, die über die Produktentwicklung hinaus andere Funktionen des Unternehmens integriert und komplett eigenständige Einheiten bildet, die für definierte Kunden arbeiten. So würden Abhängigkeiten weiter reduziert, Flexibilität und Geschwindigkeit erhöht und weitere Skalierbarkeit ermöglicht ohne Bürokratie- und Prozessmonster zu erschaffen. Auf dem Weg dorthin wäre die aktuelle Organisation eine – meiner Meinung nach notwendige – Zwischenform. Ich freue mich jedenfalls auf weitere Schritte, die wir noch gehen müssen. Doch nicht nur die nächsten großen Schritte müssen gegangen werden, sondern auch einige kleine, die das bisher Erreichte komplettieren.  

Würde ich solch eine große Reorganisation wieder persönlich mitgestalten wollen? Es ist sicher eine eher undankbare Aufgabe, da man es aus der Sicht mindestens einzelner Mitarbeiter sowieso immer verkehrt macht. Andererseits hat es sehr viel Spaß gemacht genau hier neue Ansätze mit stärkerer Beteiligung auszuprobieren und umzusetzen. Wahrscheinlich gibt es auch Sichtweisen, wonach es effizienter gewesen wäre eine klassisch per Management-Order verkündete Reorganisation durchzuführen. Das hielte ich für eine grobe Fehleinschätzung. Alle Reorganisationen, die ich bisher miterlebt habe und die ausschließlich im Modus „top-down“ passierten, endeten in der Regel mit wesentlich mehr Chaos, wesentlich mehr Frust bei den Mitarbeitern und wesentlich weniger und auch weniger nachhaltigem Effekt im Ergebnis. Insbesondere wurden dabei fast nie offensichtliche Probleme hinterfragt und korrigiert, was wir an sehr vielen Stellen getan haben. Nach ein bisschen Erholung könnte ich mir das also vorstellen…

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