Unser moderne Welt ist komplex. Komplexität bedeutet, dass die meisten Sachverhalte so viele Einflussfaktoren haben, dass es nicht möglich ist vorherzusehen, wie sich eben jener Sachverhalt entwickeln wird (Märkte, Konkurrenten, Technologien…). Wir können es einfach nicht wissen. Langfristige Planung ist damit wertlos. Agilität gibt uns einen Ansatz in die Hand damit umzugehen: Prinzipien, wie iteratives Ausprobieren, damit frühzeitiges Fehlermachen, ständiges Lernen und die fortwährende Anpassung des Vorgehens an das Gelernte. Eine solche Methodik erlaubt es trotz hoher Dynamik und enormer Unsicherheit – Komplexität eben – zum Beispiel erfolgreiche Produkte zu entwickeln.
Nun könnte das dazu verleiten Agilität vor allem als Methodik anzusehen, beispielsweise in Form von Scrum. Dies trifft aber den Kern nicht. Der meiner Meinung nach wichtigste Punkt bei agiler Unternehmensführung ist: die persönliche Haltung zum Mitarbeiter. Dazu zwei Beispiele:
Die überforderten Chefs
Meine Freundin hat vor wenigen Monaten ihren Job in einem Unternehmen im Gesundheitsbereich gekündigt. Wohlgemerkt nach 10 Jahren Betriebszugehörigkeit und bei einer Größe des Teams, von ungefähr 10 Leuten, mit denen sie unmittelbar arbeitete, und 60 am Standort. Eine vertraute, persönliche Atmosphäre also. Schockiert haben uns die Reaktionen ihrer Chefs.
Als sie ihrem direkten Chef eröffnete, dass und warum sie kündige, war dessen Reaktion – Lachen. Selbst darauf angesprochen, warum er denn lache, war ihm keine sinnvolle Aussage zu entlocken. Meine persönliche Vermutung ist, dass er mit der Situation überfordert war, weil er – wie es so oft geschieht – in die Vorgesetztenrolle gekommen war, ohne jemals dazu aus- oder weitergebildet worden zu sein. Es ist sicher nachvollziehbar, wie schlecht sich das für meine Freundin in diesem wichtigen Moment angefühlt haben muss.
Der Chef ihres Chefs war der kaufmännische Leiter des Standorts. Da sie eben schon so lange dort arbeitete, wollte sie es auch ihm persönlich mitteilen. Seine Reaktion war ähnlich bizarr. Er antwortete: „Kommen Sie mir jetzt nicht auch noch mit einer schlechten Nachricht. Nicht am Freitag. Das geht nicht. Sie können nicht am Freitag kündigen.“ Und das war durchaus ernst gemeint formuliert und kein missglückter Ausdruck des Bedauerns.
Beide fanden kein Wort des Bedauerns oder zeigten überhaupt Interesse an Beweggründen.
Das Gute daran ist, dass meine Freundin hinterher wusste, dass der Jobwechsel die richtige Entscheidung war. Das Schlechte daran ist das Gefühl, das bei Mitarbeitern entsteht, wenn sie so behandelt werden.
Die überfordernden Chefs
Das zweite Beispiel ist die Strategieplanung in meinem derzeitigen Unternehmen. Die Geschäftsführung und der C-Level hatten mehrere Monate darauf verwandt eine grundlegend neue Unternehmensstrategie zu entwickeln. Im nächsten Schritt musste diese für die Umsetzungsplanung an die Bereiche weitergegeben werden. Bis zu diesem Zeitpunkt kannten die Bereiche die neue Strategie nicht. Als sie ihnen vorgestellt wurde, wurde im gleichen Moment das Ziel formuliert zwei Wochen später eine eigene Planung daraus abgeleitet zu haben. Um dahin zu kommen, mussten aus den High-Level-Zielen aber zunächst Vorhaben abgeleitet, zwischen umsetzenden Bereichen und Business-Sponsoren abgestimmt und Abhängigkeiten zu anderen Abteilungen geklärt werden. Dies erforderte so viele Analysen und Bewertungen, Abstimmungen in alle Richtungen und mit unterschiedlichsten Akteuren und Planungsarbeit, dass das in den zwei Wochen kaum zu schaffen war. Deutlich erschwerend hinzu kam aber vor allem, dass die Zwei-Wochen-Frist sofort startete. Wer typische Führungskräfte-Kalender kennt, weiß, dass diese kurzfristig immer recht voll sind. Das Resultat war eine völlig unnötige Überforderung des nahezu gesamten mittleren Managements. Die Führungskräfte waren gezwungen die tägliche Arbeit, aber auch akute andere Themen sofort zurückzustellen, um ein halbwegs brauchbares Ergebnis in den zwei Wochen zusammen zu zimmern.
Man möge mich nicht missverstehen: Selbstverständlich kommt der Strategieplanung – noch dazu, wenn sie einen grundlegenden Strategiewechsel beinhaltet – sehr hohe Wichtigkeit und Dringlichkeit zu. Viel zu oft machen wir den Fehler uns um das kurzfristig Dringende anstatt um das langfristig Wichtige zu kümmern. Dennoch hätte man angemessener mit dem mittleren Management umgehen können. Ein längerer Zeitraum wäre hilfreich gewesen (das Top-Management hatte sich wie erwähnt mehrere Monate Zeit für eine wesentlich detailärmere Planung genommen). Alternativ hätte man ankündigen können, wann die Operationalisierung passieren müsste. Dann hätten das mittlere Management die Gelegenheit gehabt sich die Zeit in den eigenen Kalendern zu reservieren. Der gewählte Weg sorgte statt dessen für viel Frust und transportierte eine deutliche Geringschätzung für die tägliche Arbeit des mittleren Managements.
Die Haltung macht den Unterschied
Im Taylorismus wurde dem arbeitenden Menschen unterstellt, er müsse angeleitet, fortwährend angetrieben und überwacht werden, damit er optimale Arbeit leiste. Er sei von Natur aus eher faul und vermeide die Arbeit lieber. Ich persönlich glaube fest daran, dass die meisten Menschen von sich aus gewillt und motiviert sind etwas zu leisten. Warum? Jeder strebt nach persönlicher Anerkennung und die meisten haben den Wunsch ihrem Leben einen Sinn zu geben. Für beides ist die bezahlte Arbeit – mit der wir einen sehr großen Teil unserer Lebenszeit verbringen – eine ideale Möglichkeit.
Damit diese intrinsische Motivation zum Tragen kommt, muss man den Mitarbeitern allerdings auch wertschätzend begegnen. Beide Beispiele zeigen eine eher schwierige Haltung der Führung zu ihren Mitarbeitern. Wenn Anerkennung fehlt und durch Entscheidungen persönliche Leistungen eher in Frage gestellt werden, geht viel Motivation verloren. Natürlich gibt es auch harte Entscheidungen, die Geleistetes in Frage stellen müssen. Aber auch hier gilt: Das Entscheidende ist die Haltung. Wenn ich meinen Mitarbeitern die Gründe transparent und nachvollziehbar darlege, zeigt das eine Wertschätzung, die unangenehme Konsequenzen ertragen lässt ohne Motivation zu zerstören.
Nun ließe sich argumentieren, dass gerade im Gesundheitsbereich ein wertschätzender Umgang mit Mitarbeitern gar nicht nötig sei. Es gibt auf dem Markt genug von ihnen, so dass man keine Energie in das fortlaufende Motivieren und Halten der Mitarbeiter investieren müsste. In der IT hingegen zwinge nur die Knappheit der qualifizierten Mitarbeiter die Unternehmen dazu, sich auch noch um die Bedürfnisse ihrer Angestellten zu kümmern. Das Extrembeispiel sind die Tech-Firmen im Silicon Valley. Das ist zu pseudo-ökonomisch gedacht. Ich bin fest davon überzeugt, dass Mitarbeiter, die wertgeschätzt werden und die Einfluss nehmen können, sich wesentlich stärker mit ihrem Unternehmen und mit ihrer Arbeit identifizieren, wesentlich mehr eigenen Antrieb haben ihr Unternehmen zu verbessern und insgesamt entschieden mehr beitragen zum Erfolg – egal in welcher Branche. Ein sehr gutes Beispiel für agile Prinzipien abseits der IT, die auf der Wertschätzung und Haltung zu ihren Mitarbeitern beruhen, ist die Drogeriekette dm.
Kommunikation zwischen agil und hierarchisch
Was hat aber nun die Haltung zum Mitarbeiter mit Agilität zu tun? Wie eingangs geschildert, ist Agilität ein Mittel zum Umgang mit Komplexität. Dazu setzt sie auf iteratives Lernen, auf Eigenverantwortung und auf die Verlagerung von Entscheidungen zu den Experten für die jeweilige Frage. Vor allem für die letzten beiden Punkte ist die Haltung zum Mitarbeiter entscheidend. Ich muss meinen Mitarbeitern vertrauen, damit ich Teams in die Eigenverantwortung führen kann und zulasse, dass Mitarbeiter weitreichende Entscheidungen treffen. Ich muss anerkennen, dass sie das hoffentlich besser können als ich als Chef das könnte, weil sie die komplexen Umstände besser kennen.
In wirklich agilen Unternehmen muss deshalb ein Großteil der Kommunikation zwischen Hierarchiestufen von „unten“ nach „oben“ passieren. Diejenigen, die nah an der Umsetzung sind, teilen ihre Erkenntnisse denen mit, die daraus die Strategie fortentwickeln. Die jeweiligen Empfänger sind gut beraten auf ihre Mitarbeiter zu hören und deren Erkenntnisse auch gegenüber den eigenen Chefs zu vertreten.
In klassisch-tayloristischen Unternehmen, die auf das hierarchische Prinzip „Command & Control“ setzen, sieht Kommunikation anders herum aus: Der größte Teil der Kommunikation findet als Anweisungen von „oben“ nach „unten“ statt. Darin wird den jeweiligen Mitarbeitern mitgeteilt, was sie wie zu tun haben. Auf deren Meinung oder Initiativen wird kein Wert gelegt. Das war ein valides Konzept in der Zeit, als der Taylorismus entstand. Damals war die Herausforderung nicht die Komplexität, sondern Dinge waren nur kompliziert. In so einem Fall ist es zielführend die Arbeit vorher genau zu analysieren, den besten Lösungsweg herauszufinden und diesen fortan vorzugeben. In diesen Fällen war der Vorgesetzte noch der fachliche Experte, heute sollte dies der Mitarbeiter sein.
Es kann eine aufschlussreiche Übung sein, das Kommunikationsverhalten des eigenen Vorgesetzten auf diese Muster zu untersuchen.
Die Haltung ist der elementare Baustein von Agilität
Agilität funktioniert nicht, weil man eine bestimmt Methodik anwendet. Die wesentlichen Prinzipien der Agilität, zum Beispiel Selbstorganisation und Eigenverantwortung, können nur umgesetzt werden, wenn der Mitarbeiter auf Augenhöhe einbezogen und wertgeschätzt wird. So banal dies klingt, so schwer tut sich Management oft damit. Ein einfacher Weg wäre es anzunehmen, dass die eigenen Mitarbeiter auch am Wohl der Unternehmung interessiert und motiviert zu guter Arbeit sind. Vielleicht ist das Ergebnis überraschend…
Hallo Jan,
Wieder einmal vielen Dank für den Artikel und dieses Plädoyer an alle FKs ihre Haltung zu überdenken. Abgesehen, von den treffenden Beispielen, die Vergleiche von agil und tayloristischen Model, gefällt mir der Aufbau und der kurzweilige Schreibstil.
Wenn ich ergänzen darf, würde ich gerne den interessierten Führungskräften eine Möglichkeit an die Hand geben, ihre Haltung zu ändern.
Da eine Haltung aus Werten, Erfahrungen und Erziehung resultiert, ist diese veränderbar. Der erste und wahrscheinlich wichtigste Schritt zu einer Änderung seiner Haltung ist die Selbstreflexion. Wem das schwer fällt, der kann auf Feedback von anderen zurückgreifen. Dieses Feedback sollte jedoch ehrlich und konstruktiv gestaltet sein. Führungskräfte tun also gut daran den Mitarbeitern zunächst eine anonymisierte Möglichkeit einzuräumen, ein Feedback zu geben. Hat sich die Haltung verändert und ist ein sicheres und vertrauensvolles Umfeld vorhanden, ist ein offenes und direktes Feedback möglich.
Das Realisieren der eigenen blinden Flecke, ermöglicht ein gezieltes Arbeit an seiner Person (Die Zuhilfenahme eine Coaches sei hier empfohlen) fördert das Überdenken seiner Haltung.
Hallo Andi,
vielen Dank für deinen Kommentar und den wertvollen, weiterführenden Input! Ich kann Feedback-Mechanismen ebenfalls nur empfehlen, wenn man sich selbst weiter entwickeln oder an seiner Haltung arbeiten möchte.
Viele Grüße
Jan