Eine gängige Herausforderung in größeren Unternehmen ist die Priorisierung und Planung von Ideen oder Vorhaben. Dabei stellen sich Fragen wie: Auf welche Themen konzentrieren wir uns? Welche Vorhaben wollen wir nicht angehen? Wann kann die Umsetzung beginnen? Typischerweise gibt es nämlich weit mehr Ideen für neue Produkte oder Dienstleistungen als Kapazitäten zur Verfügung stehen diese umzusetzen.
Dieser Beitrag zeigt auf, was eine gute Vorhabenplanung leisten muss und dass gängige Methodiken dabei manchmal versagen. Er stellt auch einen einfachen Ansatz vor, der funktioniert.
Die Frage: „Auf welche Themen konzentrieren wir uns?“ ist eine gängige Herausforderung in Unternehmen.
Was muss eine gute Priorisierungsmethodik leisten?
In Unternehmungen mit hauptsächlich digitalen Produkten muss eine Methodik zur Priorisierung von Vorhaben aus meiner Sicht vor allem folgende Qualitäten mitbringen:
- Agilität: Marktumfelder sind heute meist komplex, d. h. sie ändern sich schnell und unvorhersehbar. Ein Black-Swan-Ereignis wie die Corona-Krise ist ein besonders eindringliches Beispiel. Auf diese, aber auch auf wesentlich weniger dramatische Veränderungen muss eine Unternehmung in der Produktentwicklung schnell und flexibel reagieren.
- Global innovieren statt lokal optimieren: “Disruption” ist ein weiterer Effekt komplexer Marktumfelder. Innovationen können Geschäftsmodelle grundlegend auf den Kopf stellen und das Wettbewerbsgefüge verändern (digitale Innovationen besonders schnell). Um darauf zu reagieren oder selbst Innovationen hervorzubringen, ist übergreifendes Handeln in der Unternehmung erforderlich (cross-disziplinär, cross-organisational, cross-…). Einzelne (und insbesondere agile, d. h. stärker autonome) Abteilungen optimieren jedoch in der Regel eher lokal. Vorhabenplanung muss ermöglichen anstatt kleiner, lokaler Vorhaben eher große und übergreifende umzusetzen, die viele Teile der Unternehmung betreffen.
- Fokus: Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass es sehr leicht ist, Vorhaben anzufangen, aber sehr schwer, Vorhaben abzuschließen. Es gibt unzählige Untersuchungen dazu, dass paralleles Arbeiten weit schlechtere Ergebnisse liefert als sequentielles Arbeiten. Das trifft nicht nur auf einzelne Menschen zu, sondern auch (und wahrscheinlich sogar noch mehr) auf ganze Unternehmungen. Insbesondere, wenn man die im letzten Punkt beschriebenen, übergreifenden Vorhaben umsetzen möchte, kann auch eine große Unternehmung nur eine begrenzte Anzahl gleichzeitig angehen.
- Schlanker Prozess: Zu guter Letzt darf ein Priorisierungs- und Planungsprozess selbst natürlich nicht zu aufwändig sein für alle Beteiligten, sondern schlank.
Global innovieren statt lokal optimieren: Größere agile Unternehmungen handeln oft zu kleinteilig.
Gängige Methoden versagen
Priorisierungs- und Planungsmethoden gibt es viele. Leider hapert es meiner Erfahrung nach jedoch oft an diesen beschriebenen Qualitäten.
Nehmen wir beispielsweise die bekannte Methodik von “Objectives and Key Results” (OKRs): Wie schon in meinem Beitrag “Orientierungslose OKRs” geschrieben, bringt sie drei dieser vier Qualitäten nicht mit:
- Agilität: OKRs erzwingen einen festen Rhythmus (von 3, 4 oder 6 Monaten). Einerseits müssen die Key Results in diesem Zeitrahmen erreicht werden, andererseits findet die nächste Planung auch starr nur in diesen Zeiträumen statt. Für mich ist das das Gegenteil von agil und zu Beginn etwa einer globalen Pandemie mit enormen Auswirkungen muss man aus diesem Framework ausbrechen, wenn man schnell wirkungsvoll reagieren möchte.
- Fokus: Theoretisch zielen OKRs darauf ab, alle Einheiten einer Unternehmung auf große Vorhaben auszurichten. Ich glaube, dass OKRs das auch leisten können. In Umsetzungen, die ich gesehen habe, führte es aber dazu, dass OKRs z. B. auf Unternehmens-, Bereichs-, und Abteilungs-Ebene existierten und alle Einheiten neben den übergeordnet vorgegebenen Zielen auch ihre lokalen Ziele einfließen lassen wollten. Das führte zu einer Unmenge von parallel zu bearbeitenden Zielen und Teilzielen, so dass der Fokus verloren ging. Die Ziele wurden von der Kapazität entkoppelt.
- Schlanker Prozess: Dadurch, dass nur alle 3, 4 oder 6 Monate neue Vorhaben gestartet werden können und durch die Unmöglichkeit dabei alle Wünsche als OKRs wirklich zu priorisieren, versuchen die Beteiligten die Erfolgsaussichten für “ihre Vorhaben” zu optimieren, indem möglichst viel in die Vorbereitung, z. B. Business Cases etc. investiert wird. Da dies für alle gewünschten Vorhaben passiert, wird der Aufwand riesig.
Eine Priorisierung und Planung in festen zeitlichen Rhythmen ist nicht agil.
Schlanke Priorisierung aus dem agilen Baukasten
Wie kann also eine gute Vorhabenplanung aussehen, die diese vier Qualitäten mitbringt?
Eine mögliche Methodik ist erstaunlich einfach, denn sie verwendet bekannte agile Prozesse und Artefakte im Großen. Ich nenne sie “rollierende Vorhabenplanung”. Diese Methodik lässt sich eleganterweise auf allen Ebenen einer Unternehmung anwenden. Zur Erläuterung spielen wir sie einmal auf Unternehmensebene durch:
- Backlog: Zunächst braucht es einen unternehmensweiten Backlog von Ideen für Vorhaben, der vom Produktmanagement befüllt wird. Die Vorhaben darin sind zunächst nur so weit ausgearbeitet, dass das Kundenproblem und der potenzielle Nutzen grob klar sind.
- Laufende Verfeinerung: Erst wenn ein Vorhaben im Vergleich zu den anderen aussichtsreich erscheint, wird es verfeinert. Ein nächster Schritt wäre zum Beispiel den Umfang der Umsetzung zu definieren. Danach müsste man analysieren, welche Ressourcen für eine Umsetzung nötig wären und welche Unternehmenseinheiten mitwirken müssten. Später könnte man eine grobe Meilensteinplanung ergänzen. Das Prinzip hierbei ist es, nicht alle Arbeit zu Beginn zu machen, sondern schrittweise und nur, sofern es gute Aussichten gibt, dass das Vorhaben tatsächlich priorisiert wird.
- Priorisierung: Dieser Backlog wird rollierend priorisiert, d. h. ich weiß jederzeit, was das höchst-priorisierte Vorhaben ist. Dennoch muss ich diese Priorisierung nicht ständig machen. Es reicht, wenn das jeweils vor dem folgenden Schritt passiert, d. h. spätestens wenn das nächste Vorhaben gestartet werden kann. Je höher ein Vorhaben priorisiert wird, desto mehr muss geklärt sein um es bereit zu machen für eine Umsetzung. Weniger aussichtsreiche Vorhaben werden laufend aussortiert oder zurückgestellt.
- Start: Das höchst-priorisierte Vorhaben starte ich dann, wenn ich die nötigen Kapazitäten dafür verfügbar habe. Typischerweise passiert das, wenn laufende Vorhaben fertig werden oder gestoppt (z. B. um wegen Corona freie Kapazität zu schaffen). Für jedes Vorhaben ist der Umfang definiert, z. B. ein MVP, MRP, etc. Dieser Umfang wird dann umgesetzt. Wenn der Umfang später erweitert werden soll, zum Beispiel vom MVP zum vollwertigen Produkt skaliert, so kann dies als Vorhaben genauso in den Backlog aufgenommen und dort bewertet werden.
- Umsetzung: Die eigentliche Umsetzung dauert nun idealerweise so lange wie geplant. Es kommt jedoch natürlich auch vor, dass eine Umsetzung länger dauert – z. B. wenn sich das Vorhaben als komplexer herausstellt als gedacht (gerüchteweise soll das ab und an vorkommen). In diesem Fall dauert es dann entsprechend länger. Alternativ gibt es die Option ein Vorhaben abzubrechen, wenn sich die Komplexität als so hoch herausstellt, dass das Aufwand-Nutzen-Verhältnis ungünstig wird. In jedem Fall zwingt die Methodik die Umsetzung nicht in einen festen Zeitrahmen, sondern berücksichtigt, dass wir erst beim Umsetzen lernen, was wirklich zu tun ist und wie lange es entsprechend dauert.
Mit bekannten agilen Prozessen und Artefakten ist eine rollierende Vorhabenplanung möglich.
Ein einzelnes Vorhaben ist am Anfang nur die grobe Vorstellung eines Kundenproblems und wird im weiteren Lebenszyklus immer weiter verfeinert. Die Klarheit und der Aufwand wachsen erst im Zeitverlauf.
Im Überblick lässt sich der Prozess so veranschaulichen:
Stärken des rollierenden Ansatzes
Wenn dieser relativ simple Prozess fortwährend gelebt wird, haben wir eine rollierende Vorhabenplanung, die die vier eingangs erwähnten Qualitäten mitbringt:
- Agil bin ich dadurch, dass die ausschlaggebende Priorisierung bis zum tatsächlichen Startzeitpunkt des nächsten Vorhabens hinausgeschoben werden kann.
- Globales Innovieren statt lokalem Optimieren wird möglich, wenn ich diese Methodik übergreifend, z. B. auf Unternehmensebene einsetze.
- Fokus schafft die Methode, da sie die Anzahl gleichzeitiger Vorhaben begrenzt – und das nicht durch zufällig festgelegte Obergrenzen gleichzeitiger Vorhaben, sondern ausgerichtet an der tatsächlichen Umsetzungskapazität.
- Schlank ist der Prozess, da er früh weniger aussichtsreiche Vorhaben aussortiert und der volle Vorbereitungsaufwand nur für die aussichtsreichsten erbracht werden muss.
Zwei Anmerkungen möchte ich noch loswerden:
Man könnte dem Prozess unterstellen sehr top-down getrieben und damit nicht agil zu sein. Tatsächlich ist es so, dass jeder Mitarbeiter (typischerweise jedoch Produktmanager) Vorhaben für den Backlog vorschlagen könnten. Insofern ist dieser Ansatz auch bottom-up möglich. Was die Priorisierung selbst angeht, so sind beide Wege möglich: Eine top-down vorgegebene Priorisierung oder eine kollektiv durchgeführte.
Zum anderen könnte man dem Prozess vorwerfen nicht agil zu sein, weil große Vorhaben geplant, abgesegnet und dann umgesetzt werden. Das klingt sehr wasserfallig. Dem ist aber nicht so. Im Sinne von global innovieren statt lokal zu optimieren erlaubt der Prozess die Umsetzung größerer Produktinnovationen. Das erfordert allerdings mehr vorherige Planung. Die Agilität bleibt dadurch erhalten, dass man erst ein MVP umsetzen könnte, je nach Ergebnis dann ein MRP und danach das Produkt vollständig skalieren – jeweils als eigene Vorhaben. Die Vorhaben selbst sollte man natürlich idealerweise auch iterativ umsetzen.
Noch ein Wort zur Einordnung: Priorisierung und Planung sind Bestandteile von Portfolio-Management. Aber eben nur Teile und deshalb wäre es falsch allein dies schon als Portfolio-Management zu bezeichnen. Zu einem vollständigen Portfolio-Management fehlen noch Fragen wie: Wie stellen wir sicher, dass die ausgewählten Vorhaben insgesamt möglichst effizient umgesetzt werden? Welche Abhängigkeiten zwischen ihnen gibt es? Wann brechen wir ein Vorhaben ab?
Eine Frage habe ich nun allerdings immer noch nicht beantwortet: Wie wähle ich denn genau aus, welche Vorhaben ich starte und welche nicht? Wie priorisiere ich den hier beschriebenen Backlog an Ideen? Die Antwort darauf gibt es im dritten Beitrag dieser Mini-Serie zum Thema Planung und Priorisierung.
Bis dahin bin ich gespannt auf dein Feedback zur hier skizzierten Methodik oder andere Ideen!