Verflixte Hierarchie

Immer wieder hört man sehr aufmerksamkeitswirksam von Unternehmen, die behaupten:

“Wir haben die Hierarchie abgeschafft – bei uns gibt es keine Chefs mehr”.

Was steckt dahinter und was soll der Vorteil einer solchen Organisation sein?

Begriffsklärung

Für eine angemessene Betrachtung ist es nötig, die Begriffe “Hierarchie” und “Chef” zu schärfen. Ich will beides unter dem Begriff “Führung” zusammenfassen. Aus meiner Sicht gibt es vier Arten von Führung:

  1. Fachliche Führung: Über sie werden inhaltliche Entscheidungen zur operativ zu erledigenden Arbeit getroffen. Was in welcher Reihenfolge zu tun ist, wie es zu tun ist, was dabei zu beachten ist und so weiter.
  2. Disziplinarische Führung: Disziplinarische Führung kümmert sich um die Entwicklung des einzelnen Mitarbeiters – fachlich und persönlich.
  3. Soziale Führung: Darunter verstehe ich einen Prozess, der die menschliche Zusammenarbeit in einem Team entwickelt. Gerade in selbstorganisierten Teams (ohne klassische Führungskraft, die alle Führungsarten gleichzeitig inne hat) tun sich immer wieder Menschen hervor, die in besonderer Weise daran mitwirken, dass das Team effizient zusammenarbeitet.
  4. Strategische Führung: Strategische Führung ist für mich das Entwickeln von übergeordneten (Unternehmens-) Zielen, das Priorisieren von Vorhaben und das Sicherstellen, dass auf diese Ziele hingearbeitet wird. So wie fachliche Führung ähnlich zu Projektmanagement ist, so ist strategische Führung ähnlich zu Portfolio-Management. Weiterhin kann strategische Führung die Verbesserung der Aufbau- und Ablauforganisation umfassen.

Ein typischer Fehler ist es alle Führungsarten zu vermengen, was zu Missverständnissen führt. Ich halte eine bewusste Unterscheidung der Führungsarten für wichtig, da sie sehr unterschiedliche Charakterista aufweisen.

Ein typischer Fehler ist es alle Führungsarten zu vermengen, was zu Missverständnissen führt.

Charakteristika der Führungsarten

Fachliche Führung hängt sehr stark ab vom jeweiligen operativen Thema. In komplexen Szenarien wechseln diese sehr häufig. Während ein Mitarbeiter in einem Thema Experte ist, ist das im gleichen Team aber in einem anderen Thema vermutlich jemand anderes. Das ist auch einer​ der Gründe, warum agile Vorgehensweisen propagieren, dass ein optimales Team verschiedenste Fähigkeiten vereinen sollte (multidisziplinär) und dass das Team die beste Lösung findet, anstatt die Rolle eines “Architekten” oder etwas ähnliches vorzusehen. Zusammengefasst ist fachliche Führung in komplexen Szenarien etwas eher Dynamisches und kann bzw. sollte abhängig vom aktuellen Thema wechseln.

Im Unterschied dazu kann disziplinarische Führung nur effektiv funktionieren, wenn eine Führungskraft einen Mitarbeiter längerfristig begleitet. Andernfalls fehlen das wechselseitige Vertrauen und das Verständnis für die Stärken des Mitarbeiters, seinen Hintergrund und seine Wünsche.

Die soziale Führung wiederum ist weniger volatil: Wer dafür sorgt, dass das eigene Team gut zusammen arbeitet, tut dies vermutlich unabhängig von den konkreten Aufgaben des Teams. Diese Führung könnte typischerweise wechseln, wenn die Teamzusammenstellung wechselt. Optimalerweise übernimmt der- oder diejenige mit der jeweils höchsten sozialen Führungskompetenz diese Aufgabe.

Strategische Führung wiederum sollte eine gewisse Konstanz aufweisen, um eine nachhaltige Strategie zu entwickeln und umzusetzen. Dennoch kann es bei starken Veränderungen des Marktumfelds sinnvoll sein auch die strategische Führung zu wechseln. Strategische Führung sollte übrigens auch bottom-up Impulse aus der fachlichen Führung bekommen. Dennoch glaube ich, dass sie im Wesentlichen top-down (wenngleich möglicherweise verteilt) und zusätzlich zu fachlicher Führung stattfinden sollte, da Strategiearbeit andere Fähigkeiten erfordert als fachliche Detailarbeit.

Wie setze ich die Führungsarten optimal um?

Da wir sehen, wie unterschiedlich die Charakteristika der vier Führungsarten sind, ist klar, dass man sie voneinander trennen muss, wenn sie optimal umgesetzt werden sollen. Wie mache ich das konkret und wer trägt die Verantwortung?

Fachliche Führung findet im agilen Kontext normalerweise im Team statt. Das heißt sie wird je nach Thema durch den oder die jeweils kompetentesten Mitarbeiter im Team ausgeübt.
Der historische Reflex dem besten Fachexperten auch disziplinarische Führungsaufgaben zu übertragen, führt oft zu schlechten disziplinarischen Führungskräften. Der Appell lautet daher die fachliche Führung je Thema von selbst entstehen (und auch wieder vergehen) zu lassen. Entsprechend ist auch das Team insgesamt verantwortlich für die fachlichen Ergebnisse.

Die disziplinarische Führung sollte losgelöst davon sein und denjenigen übertragen werden, denen die Entwicklung von und der Umgang mit Menschen sehr gut liegt. Sie sind verantwortlich für die Weiterentwicklung und Zufriedenheit der Mitarbeiter, sowie dafür, dass die nötigen Fähigkeiten für die Strategieumsetzung ausreichend vorhanden sind.

Soziale Führung entsteht ausschließlich implizit und kann nicht “vergeben” oder “delegiert” werden. Lediglich bei der Team-Zusammensetzung kann man darauf achten Mitarbeiter mit sozialen Führungskompetenzen im Team zu haben. Da es keine formale Regelung gibt, entsteht auch keine explizite Verantwortlichkeit. Für das Funktionieren des Teams kann nur eine disziplinarische Führungskraft verantwortlich gemacht werden, die dafür sorgen muss, dass die richtige soziale Führung im Team entstehen kann.

Strategische Führung muss alle Anstrengungen einer Unternehmung fokussieren. Aus diesem Grund sollte sie von der Geschäftsführung ausgehen und dann heruntergebrochen werden: über diejenigen, die die disziplinarische Führung ausüben (wegen der Entwicklung der Mitarbeiter im Einklang mit der Strategie) und bis zu denjenigen, die fachliche Führung ausüben. Natürlich ist die Geschäftsführung auch verantwortlich für den Gesamt-Unternehmenserfolg.

Flache Hierarchien – die Lösung aller Probleme?

Wenn wir nun zur Ausgangsfrage zurückkehren, müssen wir auch sie nach den Führungsarten differenzieren.

Die fachliche ist die Führung, die eigentlich meistens gemeint ist, wenn eine flache Hierarchie herbeigesehnt wird. Hier ergibt sie auch am meisten Sinn: Fachliche Entscheidungen sollten möglichst dort getroffen werden, wo die fachliche Kompetenz am höchsten ist. Mit zunehmender Distanz, d. h. mit höherer Entfernung durch die Hierarchie, nimmt sie typischerweise ab. Was bedeutet das aber, wenn ich dennoch eine – zum Beispiel disziplinarische – Hierarchie im Unternehmen habe? Ich muss die fachliche Hierarchie wie dargelegt davon trennen! Konsequenterweise endet die fachliche Hierarchie auch weit vor der disziplinarischen. Das heißt Teileinheiten eines Unternehmens entscheiden autonom, ohne dass noch jemand übergeordnet dem zustimmen müsste. Die fachliche Hierarchie wird also flach, indem sie irgendwo aufhört und gar nicht bis nach “ganz oben” weitergeht. Das klingt schwierig, ist aber machbar. Die disziplinarisch höheren Ebenen müssen dafür lernen fachlich loszulassen.

Ein Korrektiv, was ich auf hierarchisch höheren Ebenen als sinnvoll empfinde, ist der Abgleich der fachlichen Entscheidungen mit der Strategie. Das ist aber tatsächlich dann bereits strategische Führung.

Bei der disziplinarischen Führung sieht die Sache schon anders aus. Hier halte ich es nicht für sinnvoll begrenzte oder auch nur flache Hierarchien zu haben. Denn je flacher eine Hierarchie ist, desto größer ist die Führungsspanne der einzelnen Führungskraft. Sie muss sich dann um mehr Mitarbeiter gleichzeitig kümmern, wie die folgenden Darstellungen verdeutlichen:

In beiden Darstellungen arbeiten auf der unteren Ebene gleich viele Mitarbeiter. Bei einer flachen Hierarchie mit nur zwei Führungsebenen muss jede Führungskraft sehr viele Mitarbeiter führen. Bei einer tiefen Hierarchie mit drei Führungsebenen führt eine Führungskraft sehr viel weniger Mitarbeiter.

Jeder Mitarbeiter sollte entwickelt werden und das geht natürlich umso schlechter, um je mehr Mitarbeiter sich eine disziplinarische Führungskraft kümmert. Insofern muss die disziplinarische Führung auf einer Hierarchie basieren, die gar nicht zu flach sein darf.

Soziale Führung ist eher informell und kennt daher kaum echte Hierarchien. Sie ist viel stärker auf das jeweilige Team begrenzt und damit eher horizontal.

Wie schon oben dargelegt, ist strategische Führung ausgehend von der Unternehmensführung eine Aufgabe, die über die disziplinarische und fachliche Führung in die Organisation heruntergebrochen wird (was nicht bedeutet, dass die strategische Führung nicht auch einmal in umgekehrter Richtung funktionieren kann). Damit benötigt eine Unternehmung stets mindestens so viele strategische Hierarchieebenen, wie es disziplinarische Führungsebenen gibt (da dies ja mehr sein dürften als fachliche). Das mag kontraintuitiv erscheinen, aber je mehr Mitarbeiter eine Unternehmung hat und damit je tiefer die disziplinarische Hierarchie, desto mehr Aufwand muss auch in die Vermittlung der Strategie investiert werden. Hierbei Ebenen zu überspringen wäre nachteilig für die Strategieumsetzung.

Fazit

Um konkreter über flache oder tiefe Hierarchien reden zu können, sollte man die Arten von Führung klar unterscheiden: fachliche, disziplinarische, soziale und strategische.

Für fachliche Führung ist eine flache Hierarchie sinnvoll, indem sie von unten beginnend möglichst wenige Stufen hat, die Entscheidungen freigeben müssen. Dazu muss das obere Management fachliche Führungsverantwortung abgeben können.

Die disziplinarische Führung hingegen ist im Idealfall tief, da eine flache disziplinarische Hierarchie implizieren würde, dass Führungskräfte zu viele Mitarbeiter disziplinarisch führen, worunter die Qualität der Mitarbeiterentwicklung leiden würde.

Soziale Führung ist nahezu hierarchiefrei – eher horizontal als vertikal ausgeprägt.

Strategische Führung schließlich sollte von der Unternehmensleitung sauber und detailliert, d. h. tief heruntergebrochen werden über die disziplinarischen wie die fachlichen Führungskräfte.

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6 Gedanken zu „Verflixte Hierarchie

  1. Super Artikel, tolle Aufschlüsselung. Danke!

    Eine Frage dazu: Wie kann ein disziplinarisch Vorgesetzter wirklich gut eine Mitarbeiterentwicklung verantworten? Gilt nicht auch gerade in diesem Verhältnis Vorgesetzter zu Mitarbeiter, dass Vorschläge grundsätzlich auch als Weisungen verstanden werden?

    Sollte somit die Weiterentwicklung von Mitarbeitern nicht auch Gegenstand einer laterale Führung sein?

    1. Hallo Michael,

      vielen Dank für dein Feedback!

      Zu deiner ersten Frage: Wenn die fachliche und die disziplinarische Führung wirklich getrennt sind (z. B. weil das Team die fachlichen Entscheidungen trifft), dann gibt es diesen Konflikt nicht unbedingt. Sobald die disziplinarische Führungskraft jedoch auch fachlich involviert ist, ist der Konflikt möglich. Hier hängt es von der Qualität der Führungskraft ab, ob es tatsächlich dazu kommt. Wenn dem so ist, gibt es ganz klar Grenzen in der Entwicklung des Mitarbeiters beim Thema Eigenverantwortung.

      Bezüglich deiner zweiten Frage: Tatsächlich gibt es ja bereits einige Ansätze, um persönliche Entwicklung nicht von einem disziplinarisch Vorgesetzten machen zu lassen, sondern in der Gruppe „lateral“ zu lösen. Ich glaube das kann funktionieren, setzt dafür allerdings eine sehr hohe persönliche Reife der Gruppe und jedes Einzelnen voraus. Da muss also schon viel Entwicklung vorher passiert sein. Ich überlege derzeit, ob ich genau darüber, wie Führung ohne Chef umgesetzt werden kann, einen Folgeartikel schreibe.

      Viele Grüße!
      Jan

  2. Hallo Herr Hegewald,

    sehr kompakte, aufschlussreiche Zusammenfassung über Führung, die mir in ihrer Prägnanz sehr gut gefallen hat.

    Gerne würde ich noch was hinzufügen:
    Aus meiner reichlichen Führungspraxis habe ich festgestellt, dass gute Führer im operativen Bereich immer horizontal operieren, selten vertikal. Das bedeutet, dass sie, um Übersicht zu behalten, nicht vertikal in Details abtauchen sollten (wenn, dann nur kurz) , auch wenn die Versuchung (gerade bei fachlicher Führung) sehr hoch ist. Dafür können gute Führer umso besser in der Vogelperspektive über den Tellerrand schauen und sind damit eine wertvolle Bereicherung für die Mitarbeiter mit neuen Inpulsen.

    Gute Führer -egal in welchem Umfeld- entwickeln sich meiner Meinung nach zwangsläufig immer vom klassischen Vorgesetzten zum Coach und befähigen Mitarbeiter zur Selbstführung und Verantwortung.

    Ich bin überzeugt, dass gerade im agilen Umfeld gesunde, effiziente Führung immer wichtiger wird. Zusammenarbeit ohne Führung ist eine Illusion, Selbstorganisation und -führung funktioniert nur individuell, nicht im Team.

    Interessant finde ich in diesem Zusammenhang bei der Standortbestimmung die Frage, ob eine Führungskraft vor oder hinter seinen Mitarbeitern steht. Die Doppeldeutigkeit dieser Frage in vieler Hinsicht deutet auf die Haltung der Führungskraft hin!

    …Das nur als kleine (hoffentlich sinnvolle) Ergänzung zu Ihrem interessanten Beitrag!

    mit freundlichem Gruß
    J. Lang

    1. Hallo Herr Lang,

      vielen Dank für das Feedback!

      Den Begriff Führer finde ich etwas schwierig. Die Ausführungen dazu, dass Führung möglichst eher in die Breite als in die Tiefe gehen sollte, unterstütze ich voll! Auch aus einem weiteren Grund: Führungskräfte vergessen oft, dass sie schnell zu Flaschenhälsen werden, insbesondere, wenn sie Entscheidungen an sich gezogen haben. Wenn sie dann zu tief in einzelne Themen einsteigen, fehlt ihnen schnell die Kapazität an anderen Stellen und dies wirkt sich dann dort negativ auf die Organisation aus.
      Auch in den anderen Punkten teile ich Ihre Meinung. Insbesondere die Notwendigkeit von Führung habe ich hier einmal geschildert: https://www.agil-gefuehrt.de/die-maer-von-der-selbstorganisation/.

      Vielen Dank für diese weiteren Sichtweisen und viele Grüße!
      Jan

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